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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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plötzlich von Löchern durchsetzt, und gleichzeitig, als wären seine Arme und Beine und selbst sein Schädel mit einer Axt entzweigehackt und ihm die jeweils größere Hälfte gestohlen worden?
    Mit einem Mal wurde er sich des Geräuschs seines eigenen Atems bewusst. Aus Sorge, dass er Elsa wecken könnte, schlüpfte Daniel zur Tür hinaus und streifte durch die kalten Korridore des Klosters.
    Er kannte diesen Ort so gut wie die Gewölbe und Seitenschiffe der Sankt-Erasmus-Kirche. Als Kind hatte sein Vater ihn oft mit hierhergenommen, obwohl Daniel ihm bei der Ausführung seiner priesterlichen Pflichten meist im Weg gewesen war. Während der Pfarrer Fossiter langwierige Gespräche mit der Äbtissin führte, hatte Daniel schmollend im Hof gewartet oder in den Korridoren mit sich selbst Verstecken gespielt. An anderen Tagen wiederum war er wie wild durch die Gänge gerannt oder vor dem Altar der Kapelle dem labyrinthartigen Muster konzentrischer Kreise aus roten Bodenfliesen gefolgt. Einmal hatte sein Vater ihn dabei erwischt, wie er gerade durch die Pfade ebendieser Spirale tollte, woraufhin er ihn kurzentschlossen über eine Kirchenbank gelegt und ihm mit dem Handrücken eine Tracht Prügel verabreicht hatte. Dann hatte er Daniel zum Nachdenken so lange der roten Linie folgen lassen, bis er die Mitte erreichte, wo er prompt in Tränen ausgebrochen war.
    Der Kreuzgang des Klosters war verlassen, als Daniel ihn erreichte. Über ihm blinzelten die ersten Sterne vom Himmel herab. Es wehte kein Wind: Jede einzelne Bö befand sich unten in Thunderstown, um sich in Finns Gewitter auszutoben.
    Er ging zur Kapelle hinüber, die genauso leer war. Die einzige Bewegung dort war das Flackern der Gebetskerzen in ihrer Nische. Ohne Tageslicht, das durch sie hereinfiel, waren die Muster auf den Buntglasfenstern schwer zu erkennen, aber Daniel war oft genug hier gewesen, um zu wissen, was auf ihnen abgebildet war: furchtsame Heilige, die auf den Knien ihren Gott in den Wolken um Zeichen und Wunder anflehten.
    Er ließ sich in die letzte Reihe der Kirchenbänke sinken, sein Hals war trocken und der Kummer ließ seinen Kopf schmerzhaft pochen. Er schob die Bibel und das Gebetbuch auf der Ablage vor sich zur Seite und trat das Polster, das zum Knien gedacht war, von seinem Platz.
    »Ich wäre jemand Besseres geworden«, flüsterte er durch zusammengebissene Zähne. »Ich wäre für Finn wie ein Vater gewesen.« Er wischte sich über die Augen und versuchte, sich zu sammeln.
    »Was soll ich tun?«, murmelte er. Was sollte er tun? Seine Gedanken fanden keine Antwort.
    Plötzlich ging die Tür der Kapelle auf.
    Kenneth Olivier kam herein und mit ihm strömte ein Schwall Abendluft aus dem Kreuzgang ins wächserne Halbdunkel der Kapelle. Er schloss die Tür leise hinter sich und blieb dann neben Daniels Bank stehen, die Hände in den Taschen, doch er sah nicht zu ihm herüber, sondern blickte geradeaus auf den sorgfältig hergerichteten Altar, auf dem eine cremeweiße, mit einem Kreuz bestickte Decke lag.
    »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht«, sagte er nach einer Weile, »aber ich mache mir furchtbare Sorgen um Elsa.«
    Daniels Blick huschte zu Kenneth. Sie waren sich schon öfter in der Sankt-Erasmus-Kirche begegnet, doch abgesehen von ein paar sonntäglichen Höflichkeiten hatten sie bislang äußerst selten miteinander gesprochen. Ihr letztes bedeutungsvolleres Gespräch hatte an jenem schrecklichen Tag stattgefunden, als Kenneths Sohn in den Bergen verschwand.
    »Ist Ihnen klar«, entgegnete Daniel, »dass das alles meine Schuld ist?«
    Kenneth zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie meinen, aber ich glaube, es ist meine Schuld. Alles.«
    Daniel runzelte die Stirn. »Nein. Wie kommen Sie denn darauf?«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Daniel öffnete den Mund, um zu antworten, aber Kenneth hob den Zeigefinger und schnitt ihm das Wort ab. Er öffnete einen Beutel, den er bei sich trug, und präsentierte Daniel, so behutsam, als wären es Eier in einem Nest, zwei Dosen Bier.
    »Sie und ich haben uns schon lange nicht mehr unterhalten«, bemerkte er.
    Daniel machte eine Geste, die den Altar, das Fliesenlabyrinth auf dem Boden davor, die Statue der Heiligen Catherine, das Gesicht gen Himmel erhoben, und Christus an seinem Kreuz an der Wand dahinter umfasste.
    »Natürlich nicht hier«, sagte Kenneth und griff nach der Türklinke. »Aber möchten Sie mir nicht Gesellschaft leisten?«
    Begleitet von einem angestrengten Schnauben legte Daniel die

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