Der Mann, der den Regen träumt
Zweiersofa. Der leere Platz neben ihm war so glatt, als hätte dort zuvor noch nie jemand gesessen, doch als Kenneth aufstand, um Elsa zu begrüßen, blieb auf seiner Seite eine Vertiefung zurück – Spuren seiner schon viele Jahre währenden Kricketbegeisterung. Elsa hätte ihn vielleicht für faul gehalten, hätte ihr nicht ein winziges weiteres Detail im Raum einen Hinweis auf eine mögliche Erklärung geliefert. Oben auf dem Fernseher stand das gerahmte Foto eines dunkelhäutigen jungen Mannes etwa in Elsas Alter, der Jeans und ein orangefarbenes T-Shirt trug. Das Bild zeigte ihn mitten in einem Lachanfall. Seine Hände waren über und über mit Ton beschmiert, von dem auch der Rest seines Körpers kurz zuvor eine ganze Menge abbekommen zu haben schien.
»Er war Töpfer«, erklärte Kenneth Olivier, dem aufgefallen war, dass Elsa das Foto entdeckt hatte. »Michael. Mein wunderbarer Sohn.«
Bevor Elsa etwas erwidern konnte, runzelte er die Stirn und zog einen der Vorhänge auf. Das Sonnenlicht, das durch den Stoff so strahlend gewirkt hatte, schien plötzlich wie von Schüchternheit ergriffen und leckte kaum noch an der Fensterbank. Und kurz darauf, als sich auch noch ein paar Wolken vor die Sonne schoben, war das Zimmer dunkler als zuvor.
»Was machst du für ein unglückliches Gesicht, Elsa?«
Sie erzählte ihm von dem Hund.
Mit dem mitfühlenden Blick eines Therapeuten hörte Kenneth sich ihren Bericht an, was seine Antwort umso überraschender machte. »Elsa, ich will dich ja nicht noch mehr beunruhigen, aber du musst eins verstehen: Es ist gut, dass der Hund getötet wurde. Diese Hunde bringen Unglück über die Stadt.«
» Unglück? Das war doch nur ein Hund! Ein wunderschöner Hund mit blauen Augen!«
»Ah ja, die Augen.« Kenneth gluckste unbehaglich. »Weißt du, die Augen sind das verräterischste Zeichen. Wenn du einem von diesen Hunden bei Sonnenuntergang begegnest, sind seine Augen orange oder rot.«
Elsa dachte daran, wie das Blau der Hundeaugen bei seinem Tod zu Schwarz verkohlt war. Sie erschauderte und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sag, Elsa, der Mann, der den Hund getötet hat, war er groß? Mit einem schwarzen Bart?«
»Ja, genau der war es. Daniel Soundso.«
»Daniel Fossiter. Er ist ein angesehener Mann in Thunderstown. Stammt aus einer alteingesessenen Familie von Bergjägern. Mit dem solltest du es dir besser nicht verscherzen.«
»Bergjäger?«
»In erster Linie jagt er da oben Ziegen. Er hält den Bestand unter Kontrolle, damit die Tiere nicht den Pflanzenwuchs zerstören oder sich bis runter in die Stadt ausbreiten. Glaub mir, die fressen einfach alles, was sie zwischen die Zähne kriegen. Aber Daniel hat auch noch eine rituelle Funktion. Er tötet auch«, Kenneth stockte, »andere Kreaturen.«
Wieder sah Elsa Daniel Fossiter vor sich. Er war von einer beinahe animalisch anmutenden Aura aus Macht umgeben gewesen. Wie ein Löwe in freier Wildbahn. Er hatte nichts menschlich Berechnendes an sich gehabt und doch wie eine natürliche Bedrohung auf sie gewirkt. »Er war mir unsympathisch.«
»Um ehrlich zu sein, Elsa, ich fühle mich in seiner Gegenwart auch manchmal unbehaglich.«
»Ja. Genau. Unbehaglich.«
Sie stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hoch, setzte sich in den Korbsessel und blickte über die Dächer. Die Wolken formten klumpige Streifen, die zu nichts weiter gut waren, als das Sonnenlicht abzuhalten. Thunderstown hatte ihr besser gefallen, bevor sie Daniel Fossiter begegnet war, und Elsa wünschte, sie wäre ihm niemals über den Weg gelaufen. Sie hätte gut einen Tag ohne Unbehagen gebrauchen können.
Einen solchen Tag hatte es für sie schon seit dem Sommer nicht mehr gegeben. Nach der Beerdigung ihres Dads hatte sie sich gefühlt wie eine von Haarrissen durchzogene Vase, die sich verzweifelt bemühte, das Wasser in ihrem Inneren zu halten. Dann, eines Tages, nachdem ein ganzer Monat vergangen war, hatte sie dem Druck einfach nicht mehr standhalten können. Ein einziger weiterer Riss hatte sie in tausend Scherben zerspringen lassen.
Es war Peters Schuld gewesen. Wahrscheinlich machte er sich noch immer die schlimmsten Vorwürfe deswegen, denn sie war nicht in der Lage gewesen, ihm zu erklären, dass sie schon seit Längerem innerlich immer mehr zerbrach und dies bloß der letzte Ausschlag gewesen war. Sie hoffte, dass er schnell darüber hinwegkommen würde. Er verdiente es.
Er hatte vorgeschlagen, für ein langes Wochenende die Stadt zu verlassen.
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