Der Mann, der den Regen träumt
Die Windmühle gibt es nicht mehr. Dafür hat der Wind gesorgt, der sie eigentlich antreiben sollte.« Er gluckste unsicher. »Sei vorsichtig da oben. Diese Berge sind voll mit alten Mineneingängen. Ein paar davon sind nicht sehr gut gesichert.«
»Keine Sorge. Ich sehe vielleicht aus wie ein Stadtkind, aber ich bin an einem noch viel abgelegeneren Ort aufgewachsen als diesem hier.«
Er nickte, doch sie sah ihm an, dass er nicht überzeugt war. Verlegen blickte er sie an. »Tut mir leid, Elsa, ich bin bloß ein alter Mann, der sich über alles Sorgen macht. Seit Michael nicht mehr da ist, mache ich mir über ziemlich viele Dinge Sorgen.«.
Elsa hob einen Finger an die Lippen. »Kein Problem.« Sie drehte sich zur Straße um und hielt dann inne. »Wo ist er jetzt? Dein Sohn, meine ich. Michael.«
Kenneth lächelte. Es war ein zögerliches, unglückliches Lächeln. »Ich wünschte, ich wüsste die Antwort auf diese Frage. Alles, was ich weiß, ist, dass er einen Spaziergang in die Berge machen wollte.« Er räusperte sich. »Weißt du, es existiert eine alte Legende darüber, wie diese Berge hier entstanden sind. Es heißt, dass es vor langer Zeit vier Stürme gegeben hat, die das Wehen und Tosen eines Tages leid waren. Darum haben sie sich auf der Erde niedergelassen, genau hier, um sich eine Weile auszuruhen. Schon bald nickten sie ein, und während sie schliefen, begannen sie zu verkrusten und zu verkalken. Und als sie wieder erwachten, hatten sich die vier Stürme in Stein verwandelt und waren fest im Erdboden verankert. Das ist natürlich Aberglaube, aber es soll erklären, dass es da oben Orte gibt, die nicht so beständig sind, wie sie vielleicht scheinen. Orte, die sich, der Legende nach, etwas von ihren stürmischen Wurzeln bewahrt haben. Wir haben Michaels Kleider ordentlich gefaltet am Ufer eines Bergsees gefunden. Das war das letzte Zeichen von ihm. Wir sind getaucht und getaucht, um seine Leiche zu finden, aber er war wie … vom Erdboden verschluckt.« Kenneth Olivier seufzte und rieb sich über die Augenbrauen. »Tut mir leid, Elsa. Jetzt habe ich dir den ganzen Spaß verdorben. Aber du musst da raufgehen, erstens, weil du es gern möchtest, und zweitens, weil die Aussicht fantastisch ist. Und du wirst schon wohlbehalten zurückkommen.«
»Das alles tut mir furchtbar leid.« Sie hätte ihn gern getröstet, doch im nächsten Moment musste sie an ihren eigenen Verlust denken und ein Kloß formte sich in ihrem Hals.
Kenneth stieß ein kleines, trauriges Glucksen aus und griff wieder nach seiner Schaufel. »Danke. Und jetzt genieß deinen Spaziergang und mach dir keine Gedanken über solche Sachen.«
* * *
Die Hänge in den unteren Lagen des Old Colp waren von einem drahtigen Teppich aus grauen Grasbüscheln und zerzaustem Heidekraut überzogen. Blüten leuchteten im Gestrüpp. Elsa ging davon aus, dass sie giftig waren, weil die Bergziegen sie nicht angerührt hatten.
Als sie die erste Anhöhe erreichte, blieb sie stehen, um die Aussicht auf das Städtchen zu genießen. Die Sonne spiegelte sich im Metall der Wetterfahnen und ließ sie aufflammen wie einen Tisch voller Gebetskerzen. Die Fenster der Sankt-Erasmus-Kirche wirkten unverändert dunkel. Der Himmel hatte sich verfärbt, nachdem die staubartige Wolke, die zuvor nur über dem Merrow Wold geschwebt hatte, sich nun nordwärts ganz über das Blau verschmiert hatte.
Ein Stück weiter oben machte der Pfad eine Biegung und von da an nahm die Bergflanke ihr den Blick auf die Stadt. Jede Spur von Zivilisation war wie ausgelöscht. Dunkle Steinbrocken erhoben sich wie schnuppernde Hasen aus dem trockenen Gras zwischen den verstreut stehenden, verkrüppelten Bäumen. Ein paarmal sah Elsa auch echte Hasen oder andere Nagetiere, die sie nicht erkannte, in ihren dunklen Löchern verschwinden. Etwas später erspähte sie auf einem natürlich entstandenen Felsentürmchen ihre erste Thunderstown-Ziege, die argwöhnisch auf sie herabstarrte – eine steingraue Kreatur mit Hörnern, die sie doppelt so groß wirken ließen, wie sie eigentlich war. Das Tier stieß ein Meckern aus, als Elsa an ihm vorbeiging, ein Laut wie ein Echo lang vergangener Erdrutsche.
Aus dieser Höhe konnte sie den Rest des Gebirgszugs überblicken, der mit seiner gezackten, gelbbraunen Kammlinie wie der Kieferknochen eines Raubtiers wirkte, in dem noch die scharfen Zähne steckten. Zwischen einigen der Gipfel hatten sich graue und weiße Wolkenstreifen verfangen, und als der Pfad
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