Der Mann, der den Regen träumt
Elsa am oberen Rand eines Tals entlangführte, sah sie, wie ein kleiner Dunstbausch geschickt wie eine Bergziege den gegenüberliegenden Hang erklomm.
Als sie die Windmühle erreichte, fand sie tatsächlich nur noch eine Ruine vor. Ein scheckiger Turm aus verblichenem Putz und geschwärztem Stein, den die Witterung an einigen Stellen regelrecht aufgebrochen hatte. Zwischen dem Pfad und der Ruine erstreckte sich eine Wiese voll biegsamem, braunem Gras, bei deren näherer Betrachtung man den Eindruck bekommen konnte, der Wind habe die Mühle gesprengt wie eine Ladung Dynamit. Ungefähr hundert Meter von dem verfallenen Bau entfernt lag ein abgebrochener Flügel, vom Gras am Boden festgeheftet. Das Gestänge war von einer undefinierbaren Schicht bedeckt, die so ausgetrocknet und ledrig wirkte wie Kürbishaut. Das fleckige Leinensegel selbst klebte hart und dunkel am Holz.
Der Aussichtspunkt war genau so, wie Elsa ihn sich erhofft hatte, denn er bot einen unvergleichlichen Blick auf Thunderstown und die umliegenden Berge. Diese schienen sich über die Dächer des Städtchens zu beugen wie Kartenspieler über einen Tisch. Sie atmete tief ein und die Luft, die sie einsog, war im Vergleich zur Großstadt so klar, dass sie laut auflachte. Welch eine Erleichterung, dass ihr Entschluss sich als so richtig erwiesen hatte. Seit sie vor vielen Jahren nach New York gezogen war, hatte kein Ortswechsel sie derart mit Zufriedenheit erfüllt. Damals hatte der schiere Anblick Manhattans, sein Chaos und seine unendlichen Möglichkeiten, sie mit Glück erfüllt. Diesmal jedoch hatte sie sich davor gefürchtet, dass ihr Umzug sich nur als das herausstellen würde, was ihre Mutter sofort darin zu erkennen geglaubt hatte: Eskapismus. Elsa hatte noch nie besonders gut zwischen Weglaufen und Vorwärtsstürmen unterscheiden können und ging mittlerweile davon aus, dass es in ihrem Fall wahrscheinlich einfach keinen Unterschied gab. Jedes Mal, wenn sie einer neuen Herausforderung oder Angst gegenüberstand, war sie einfach losgerannt und hatte erst rückblickend sagen können, ob sie sich kopfüber hineingestürzt oder aber die Flucht ergriffen hatte. Sie fragte sich, ob es das war, was ihr Dad meinte, als er behauptet hatte, ihn treibe das Wetter an. Ständigen Turbulenzen ausgesetzt zu sein.
Nach einer Weile kehrte sie der Aussicht den Rücken zu, um die Ruine genauer zu erforschen. Aus dem geborstenen Dach ragte eine Anzahl von Streben und Radzähnen, gekrönt von einem wirren Schopf aus rotem Rost. Elsa umrundete die Mühle und fand nach einer Weile, überwuchert von Moos und Flechten, die sich bei der leichtesten Berührung lösten, eine Tür, so klein, dass sie ihr gerade eben bis zum Brustbein reichte. Sie drückte die Klinke hinunter, in der sicheren Erwartung, dass die Tür verschlossen sein würde, doch sie bewegte sich tatsächlich ein Stückchen, bevor sie sich in ihren eigenen Angeln verhakte. Alter und Feuchtigkeit hatten das Holz verformt, doch als Elsa sich ein wenig fester dagegenstemmte, sprang die Tür auf.
Sie schlüpfte hindurch und schob sie hinter sich wieder zu; das Holz gab ein Stöhnen von sich. Das Innere der Mühle war kühl und von sanftem Licht erfüllt, das durch das Gewirr aus rostigem Mühlwerk und gesplitterten Balken über ihrem Kopf hereinfiel. Elsa fühlte sich, als würde sie ein gesunkenes Schiff betreten. Helleres Licht drang in dünnen Strahlen durch die Ritzen in der Wand und zeichnete glühende Linien in die Luft. Aus Ziegeln und Holzbalken wuchsen knubbelige Pilze, die wie in das Orange des Rosts getunkt wirkten, der sie nährte.
Elsa stand einfach da und genoss das leise Pfeifen des Windes in den verfallenen Vorrichtungen über ihr. Sie sog die Atmosphäre in sich ein, bis sie jegliches Zeitgefühl verlor.
Dann hörte sie eine Stimme.
Als sie ihren Schreck überwunden hatte, schlich sie auf Zehenspitzen zur Wand und spähte durch eine der Ritzen im Mauerwerk nach draußen.
Ein Mann stand dort im Gras und blickte auf Thunderstown hinunter.
Das Erste, was sie an ihm überraschte, war, dass er überhaupt dort war. Das Zweite, dass er nicht nur eine Glatze hatte, sondern sein Schädel vollkommen haarlos zu sein schien. Er hatte ein knochiges, argwöhnisches Gesicht ganz ohne Augenbrauen, Wimpern oder auch nur einen Hauch von Bartwuchs. Trotz der nicht vorhandenen Haare wirkte er jung. Elsa schätzte ihn auf dreiundzwanzig oder vierundzwanzig, ein paar Jahre jünger als sie selbst. Er war sicher
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