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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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konnte. Finn reichte ihr die Taschenlampe. Sie riss sie ihm aus der Hand und hielt den Griff fest umklammert. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse und die zurückhaltenden Farben der Felswände. Stalaktiten unterteilten die hohe Decke in zahllose Arkaden und schimmerten im Licht der Taschenlampe in milchigem Rosa und Orange. Vom Boden reckten sich ihnen Stalagmiten entgegen und an einigen Stellen hatten sich zwei solche Partner vereint und waren zu prunkvollen Säulen verschmolzen. Ein besonders fragil wirkender Stalaktit hing von der Decke wie die Fotografie eines Blitzes, während aus dem Boden sein schwieliges Gegenstück emporragte, dessen glänzende Spitze nur ein paar Millimeter unter der des anderen endete. Elsa hatte einmal einen Artikel über Stalaktiten gelesen und wusste, dass es noch gut ein Jahrhundert dauern konnte, bis diese beiden Hälften eins würden.
    Elsa schwenkte den Strahl der Taschenlampe durch die Höhle. Die gegenüberliegende Wand erstreckte sich in einer leichten Krümmung aufwärts. Die harte Felsoberfläche schillerte grün und pfirsichfarben wie die Haut einer Forelle.
    In diese Richtung, wo in der Dunkelheit Wasser glitzerte, deutete Finn. »Leuchte mal da drüben hin.«
    Das Licht fiel auf die Wasseroberfläche und brach sich an der Wand darüber.
    »Ein bisschen höher.«
    Jenseits des kleinen Sees sah sie die Schlieren der Mineralschichten im Fels.
    »Noch höher.«
    Elsa hob die Lampe noch weiter und der Strahl erfasste eine Malerei auf der Höhlenwand.
    Es war ein Muster aus Formen in dunklen Rot- und Brauntönen, die an getrocknetes Blut erinnerten. Die Höhlenmalereien, die sie aus Büchern kannte, zeigten Bisons, Hunde, Jäger oder Mammuts, diese aber war ein Gewirr aus Dreiecksfragmenten und anderen abstrakten Gebilden. Elsa versuchte sich vorzustellen, wie die Maler aus dem Paläolithikum sich auf die Zehenspitzen gestellt hatten, um ihre Farbe auf den Stein zu schmieren. Wenn damals schon dieser See hier unten existiert hatte, hatten sie dabei mit Sicherheit ihr Leben riskiert.
    Sie ging so weit nach vorn, wie es möglich war, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und in den sichelförmigen See zu stürzen. Die Lampe zitterte in ihrer Hand und das Höhlenbild schien zu tanzen. Dann schwenkte Elsa das Licht herum und richtete es auf Finn, der die Augen zusammenkniff und eine Hand vors Gesicht hob.
    Sie senkte den Strahl ein wenig. Die Malerei bildete kein Muster, sondern eine Art Sequenz. Sie führte von links nach rechts wie die Bilder einer Filmrolle. »Es ist eine Geschichte«, stellte sie fest. »Jede dieser Formen ergibt sich aus der davor.«
    Soweit sie sehen konnte, lautete die Geschichte, die das Höhlengemälde erzählte, in etwa so: Es waren einmal ein paar bauschige Gebilde, unidentifizierbare Dinge ohne erkennbare Abgrenzungen. Dann, aus unbekannten Gründen, wurden ihre Konturen eines Tages schärfer. Die Kleckse verwandelten sich in Dreiecke. Doch keins dieser Dreiecke war vollkommen: eins war von vertikalen Rissen durchzogen; ein anderes hatte eine so abgerundete Ecke, dass es beinahe wie ein Halbkreis aussah; und ein weiteres hatte eine große Kerbe in der Spitze.
    »Das hier«, sagte Elsa, während sie die Lampe auf eins der Dreiecke richtete und sich wünschte, ihre Stimme würde so sicher und fest klingen, wie der Lichtstrahl es war, »ist das Devil’s Diadem. Und das da ist der Old Colp.«
    Finn starrte in das pechschwarze Wasser. »Ja, und das ist noch nicht alles. Leuchte ein Stück höher.«
    Eifrig befolgte sie seine Anweisung und sah, dass auch die Decke bemalt war. Dort tummelten sich die verschiedensten Arten prähistorischer Tiere: Pferde und Hunde und gehörnte Ziegen. Doch keins der Tiere war fertig gezeichnet. Jedes von ihnen hatte ein Körperteil, das mit dem Fels zu verschmelzen schien. Die Hinterläufe eines steigenden Pferdes verschwanden in einem zerklüfteten Überhang. Die ausgestreckte Vorderpfote eines Hundes dehnte sich und endete in einem Stalaktiten.
    In einer Ecke der Höhle befanden sich die Menschen. Auch sie lösten sich an einigen Stellen in nichts oder Schatten auf. Und einige, die zusammengekauert oder gekrümmt vor Verzweiflung dargestellt wurden, zierten weiße Linien, die aus ihren Herzen drangen.
    »Was sind das für Leute?«, wollte Elsa wissen. »Was hat das zu bedeuten?«
    »Das weiß ich auch nicht ganz sicher.«
    Wieder richtete sie den Strahl der Lampe auf Finn. »Was soll das heißen, du

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