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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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beten. Es war gut möglich, dass selbst sie für ihn nicht viel mehr als eine Traumgestalt sein würde, ein Trugbild, das langsam aus der Wirklichkeit verblasste.
    Ja, Elsa wusste, wie gefährlich Blitze waren.
    * * *
    Der nächtliche Regen ließ die verschachtelten Straßen von Thunderstown vollkommen verändert erscheinen und die Pflastersteine in der Tallow Row glänzen wie fangfrische Austern. Elsa machte das feine Nieseln nichts aus, obwohl es ihr die Jeans an die Oberschenkel klebte und ihr Haar immer mehr durchnässte.
    Sie widerstand der seltsamen Anziehung der Sankt-Erasmus-Kirche, wandte sich stattdessen in Richtung des Old Colp und ging westwärts über den Tinacre Square, wo mitten im Regen eine einsame Straßenverkäuferin stand. Diese verkaufte Amulette und Anhänger gegen die verschiedensten Gefahren und ihr rotes Haar, dunkel vom Regen, klebte ihr feucht im Nacken. Vom Tinacre Square aus führte eine schmaler Durchgang zur Feave Street, einer Abkürzung, in der die Regentropfen sanft gegen die Hauswände klopften.
    Am Ende des Durchgangs lag ein kleiner Hinterhof, begrenzt durch die fensterlosen Rückseiten mehrerer Häuser. Dort war es heller als in der Gasse und es roch nach frischem Regen auf Schiefer. Die feinen Tropfen schwollen immer mehr an und wurden schwerer, jeder einzelne ein vertikales Flimmern in der Luft.
    Etwas landete auf Elsas Hand. Sie blickte hinunter, in der Erwartung, dass es ein Regentropfen war, stattdessen jedoch sah sie einen kleinen Käfer und schlug reflexartig zu. Sie spürte, dass sie ihn erwischt hatte, doch als sie die Hand wegzog, klebte kein zerquetschtes Insekt auf ihren Fingerknöcheln. Da war nur Wasser. Ein weiterer Käfer surrte durch die verregnete Luft und plötzlich fiel Elsa auf, dass es an den Mauern nur so von ihnen wimmelte. Sie hatten die Größe und Form von Marienkäfern, aber ihre Flügel waren dunkelgrau und hatten keine Punkte. Sie bevölkerten die Ziegelsteine und den Mörtel wie kleine Tropfen aus Quecksilber.
    Elsa erstarrte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ihr Magen zog sich zusammen, doch ihr Verstand brauchte noch einen Moment länger, um zu ergründen, was es war. Erst dann fiel ihr auf, dass sie nasse Fußabdrücke auf dem Pflaster hinterlassen hatte, das trotz des starken Regens vollkommen trocken war.
    Etwa auf Höhe ihrer Knie fand eine seltsame Verwandlung statt. Sie beobachtete, wie ein Stück über dem Boden ein Regentropfen mitten in der Luft zu zerplatzen schien. Der schwebende Spritzer nahm die Form von ausgebreiteten Insektenflügeln an, die kurz darauf zum Leben erwachten und den Tropfen aufwärts trugen. Durch den Schleier der sirrenden Flügel erkannte Elsa winzige Fühler und baumelnde Käferbeine. Er schwirrte davon und gesellte sich zu seinen Artgenossen an den Mauern des Hinterhofes.
    Unsicher näherte sie sich einer der Wände und beugte sich mit angehaltenem Atem vor, um einen der Käfer genauer zu betrachten. Sein Körper hatte die Farbe trüben Wassers und war genauso durchsichtig. Sie konnte die raue Oberfläche des Ziegelsteins darunter sehen. Und schließlich ihr eigenes Spiegelbild, verzerrt auf dem gekrümmten Rücken des Insekts.
    Elsa streckte die Hand aus, um es zu berühren. Es löste sich von der Wand und wurde auf ihrer Haut zu einem Regentropfen. Die winzigen Beine, die kaum erkennbaren Augen und der kristallene Körper verschwanden, bis nur noch ein bebender Tropfen auf ihrer Fingerspitze zurückblieb. Sie lachte verblüfft auf. Im nächsten Moment jedoch wallte Zorn in ihr auf und sie trat hastig einen Schritt zurück.
    »Finn«, sagte sie laut. Er hatte sie in die Welt dieser Insekten und seines eigenen sonderbaren Körpers eingeladen, doch nun, da sie auf der Schwelle stand, zögerte sie, denn er war nicht ehrlich zu ihr gewesen, was die Gefahren anging. Sie wollte diese Welt betreten, mehr als alles andere, doch sie konnte Ana-Marias Gesicht nicht vergessen, wie sie dort an Lucas Bett saß.
    Eilig machte sie sich wieder auf den Weg zum Old Colp.
    Während des Aufstiegs hörte der Regen auf und ließ einen Himmel voller Wolken in so vielen Formen und Farben zurück, dass er an eine verschmierte Malerpalette erinnerte. Auf den unteren Hängen zupfte der Wind kleine baumwollartige Büschel aus dem Gras. Elsa blieb stehen und ließ sich von ihnen umschwirren, während sie halb damit rechnete, dass sie sich in Insekten oder Vögel verwandeln würden, doch es waren bloß Samen mit einer Hülle aus weißem Flaum.

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