Der Mann, der den Regen träumt
»Ist es weit von hier?«
»Nein.«
Nach allem, was sie über ihn erfahren hatte, wusste Elsa, dass es gefährlich war, auch nur in Finns Nähe zu sein, und doch, zu ihrer eigenen Frustration, wünschte sie sich zu sehen, was er ihr zeigen wollte. Wie so oft in ihrem Leben entsprach das, was sie wollte, kein bisschen dem, was vernünftig gewesen wäre. Sie nickte knapp und sie machten sich auf den Weg über Hänge aus whiskyfarbener Erde und Hügel voll schwarzem Geröll und zittrigem Gras. Elsa hasste es, dass die Stille zwischen ihnen, die sie vorher so geschätzt hatte, sich so schnell in eine Kluft hatte verwandeln können. Auf dem Weg bergauf sprang Finn geschickt über Schlammlöcher und dichtes Gestrüpp, während Elsa immer wieder stolperte, im Matsch ausrutschte oder an Wurzeln hängen blieb, die der Regen freigespült hatte. Dann, endlich, erreichten sie den Eingang eines Tunnels, der so hoch war wie Elsa groß. Es schien ein Zugang zu einer der ehemaligen Minen von Thunderstown zu sein und die Bretter, mit denen er vernagelt gewesen war, waren schon vor langer Zeit verrottet. Elsa spürte einen Luftzug aus dem schwarzen Schlund aufsteigen und ihre Wange streifen, so als stünde sie vor einem offenen Kühlschrank. Finn führte sie hinein und nach ein paar Schritten knirschte etwas unter seinen Schuhen: die kaputte Hälfte einer Minenlaterne, mit einem Ball aus Spinnweben an der Stelle, wo früher die Kerze gebrannt haben musste.
»Meine Taschenlampe liegt drinnen«, sagte Finn. »Ich gehe normalerweise ohne Licht rein. Der Luftzug weist mir den Weg. Für dich wird es also erst mal ziemlich düster.«
»Was ist denn da drinnen? Was ist, wenn ich mir den Kopf stoße? Oder es da irgendwelche Spalten oder Abgründe gibt?«
»Die gibt es nicht. Und die Decke ist ziemlich hoch. Du wirst mir vertrauen müssen, auch wenn dir das im Moment wahrscheinlich nicht leichtfällt.«
Elsa wandte sich zu dem Stück blauen Himmels um, eingerahmt vom Eingang des Tunnels. »Geh einfach langsam. Wenn es mir zu viel wird, sage ich Bescheid.«
Ein paar Schritte weiter wich der Geruch nach Gras und Heidekraut, das die Hänge des Old Colp bedeckte, langsam kalter, mineralischer Luft. Schon bald erreichten sie die Grenze jeden Sehvermögens und es wurde so dunkel, dass nicht einmal mehr Moos oder Schimmel an den Wänden wucherten. Hier gab es nichts als glatten, abgesprengten Fels. Ein paar Schritte weiter beschrieb der Tunnel eine Biegung und danach standen sie in vollkommener Schwärze. Jeder Schritt kostete Elsa mehr Überwindung als der vorherige, denn kaum war ihr auch nur der Gedanke an einen unterirdischen Abgrund gekommen, rechnete sie jeden Moment damit, ins Leere zu treten. Sie blieb stehen.
»Finn«, sagte sie und das F warf ein langes Echo.
»Hier.« Seine Stimme erklang nur eine Armeslänge von ihr entfernt.
Am liebsten hätte sie die Hand nach ihm ausgestreckt, doch sie kämpfte das Verlangen nieder. Lieber wollte sie wütend wirken als verängstigt. »Finn, was soll das alles? Ich sehe absolut gar nichts!« Ein feiner Regen aus Steinstaub rieselte auf ihr Gesicht und ihre Zunge.
»Schh!«, machte er. »Nicht so laut! Laute Stimmen«, flüsterte er, »könnten den Berg über uns einstürzen lassen.«
Elsa ballte die Hände zu Fäusten. »Was kann denn so wichtig sein, dass wir dafür so was auf uns nehmen müssen? Kann ich nicht einfach hier warten, während du es für mich herholst?«
»Nein. Holen kann man es nicht. Du musst es sehen, um zu verstehen. Ich kann dich führen, wenn du möchtest. Aber dafür müsstest du meine Hand nehmen.«
»Danke, schon okay. Lass uns weitergehen.«
Elsa kam so schleppend voran, dass sie Mühe hatte, mit Finn mitzuhalten. Ihre Beine protestierten mit jedem verkrampften Muskel, den sie aufbieten konnten. Wenn Finn es anstrengend fand, sich so nervenzehrend langsam vorwärtszubewegen, sagte er es zumindest nicht. Er war genauso schweigsam wie unsichtbar.
Plötzlich flammte ein Licht auf wie eine Supernova. Elsa schlug sich mit einem gedämpften Aufschrei die Hände vor die Augen und dachte nur: Blitz.
Steinstaub füllte die erleuchtete Luft, doch der Donner blieb aus. Es war bloß der Strahl einer Taschenlampe und sie entspannte sich ein wenig, obwohl ihre Netzhäute nach dem langen Marsch in völliger Dunkelheit schmerzten.
»Wir sind da«, erklärte Finn.
Elsa blinzelte und zwinkerte, bis sie schließlich die Wölbung einer riesigen Höhle über ihnen erkennen
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