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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Ein Stück weiter bergauf gelangte sie an einen kleinen gurgelnden Bach, auf dessen Oberfläche sich das Sonnenlicht in strahlenden Schlieren spiegelte, und einen verblüfften Moment lang hielt Elsa sie für Karpfen, die träge durch das Wasser glitten. Es waren nur Spiegelungen, doch sie musste ihre Hand ins Wasser stecken, um sich zu vergewissern. Sie hatte das Gefühl, von nichts als Trugbildern umgeben zu sein, denen sie nicht trauen konnte.
    Als sie die Kate erreichte, streifte sie der Schatten einer Wolke und sie erschauderte, obwohl sie nicht sagen konnte, ob vor Angst oder Aufregung oder einfach der Kühle wegen, die er mit sich brachte. Der Wind prallte gegen den Felsvorsprung hinter der Kate und entlockte dem Stein eine tiefe, gespenstische Melodie.
    Rasch klopfte Elsa an die Tür und verschränkte dann die Arme.
    »Hi«, sagte sie, als Finn öffnete.
    »Du siehst müde aus.«
    »Du auch.«
    »Ich habe nicht gut geschlafen«, erwiderte er.
    »Ich auch nicht.«
    Er trug einen Pullover aus schwarzer Wolle, die an den Ärmeln ausgefranst war und sich aufzuribbeln begann. Er wirkte genauso aufgewühlt, wie sie sich fühlte.
    »Daniel hat mir erzählt, dass er mit dir geredet hat.«
    Elsa holte tief Luft. »Und, ist es wahr? Was er gesagt hat?«
    »Ja. Aber ich schwöre dir, das war keine Absicht. Bis zu dem Moment wusste ich noch nicht mal, dass ich Blitze in mir trage.«
    »Ich weiß, dass es ein Unfall war. Darum geht es nicht. Das Problem ist nur … Warum hast du mich nicht gewarnt?«
    »Ich … ich habe doch die ganze Zeit versucht, dir klarzumachen, dass ich gefährlich bin.«
    »Aber du hast nicht gesagt, warum.«
    »Ich wollte nicht, dass du mich hasst.«
    »Das hätte ich nicht. Aber ich wäre vielleicht ein bisschen vorsichtiger gewesen und hätte nicht mein Ohr an deine Brust gelegt! Oder dich geküsst. Jetzt weiß ich nicht mal mehr, ob ich dir trauen kann. Was, wenn ich es auf demselben Weg herausgefunden hätte wie damals deine Mutter?«
    Eine weitere Wolke zog über sie hinweg. In ihrem Schatten wirkte Finns Haut neblig grau.
    »Das wäre schon nicht passiert«, entgegnete er. »Blitze sind nicht vorhersagbar.«
    »Soll mich das etwa beruhigen? Gibt es vielleicht sonst noch irgendwas, das du mir nicht erzählt hast? Hast du noch jemandem etwas angetan?« Sie wollte ihn nicht leiden sehen, aber das hier musste sie nun ein für alle Mal klären.
    Er ließ den Kopf hängen. Der Schatten der Wolke glitt weiter, doch das sanfte Sonnenlicht, das ihm folgte, konnte Finn nicht erhellen. Er blieb bewölkt.
    »So etwas habe ich nur einer einzigen Person angetan und das war meine Mutter, die ich sehr geliebt habe. Aber diese Blitze sind noch öfter aufgetreten. Damals, in den Monaten, nachdem sie uns verlassen hatte, und ich sie so schlimm vermisste, haben sie mich immer wieder überrascht. Sie brachen einfach aus mir heraus, während ich beim Essen saß oder in den Bergen spazieren ging oder während ich schlief. Es fühlte sich jedes Mal an, als würde mir jemand die Wirbelsäule herausreißen, aber die Blitze sind alle nur in die Erde geschlagen. Ich habe mich hier oben in den Bergen versteckt, um niemanden mehr in Gefahr zu bringen. Ich hätte es dir erzählen sollen, Elsa, ich hätte es erzählen sollen und kann nicht glauben, dass ich es nicht getan habe. Aber irgendwie lag es auch an dir.«
    »Soll das vielleicht heißen, es ist meine Schuld?«
    »Nein. Ich meinte damit etwas anderes.« Finn biss sich auf die Lippe und blickte zum Gipfel hinauf.
    »Ach ja? Na, was auch immer das sein mag, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, es mir zu erklären.«
    »Ich habe dir nicht davon erzählt, weil ich mich, wenn ich mit dir zusammen bin, fühle, als stünden mir sämtliche Haare zu Berge, obwohl ich kein einziges Haar am Körper habe.«
    Sie war sprachlos. Sie blickte zu den Felsen und dann ins braune Berggras, überallhin, nur nicht in Finns Augen.
    »Du …« Elsa suchte nach Worten. Nach einer Weile fand sie ein paar Reste ihrer alten Entschlossenheit wieder, aber sie war sich nicht sicher, ob ihr die Härte gefiel, die in ihren Worten mitschwang, als sie sagte: »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Gibt es sonst noch irgendetwas, das du vor mir verheimlichst?«
    Er schloss die Augen. »Ja. Da ist noch etwas.«
    »Dann solltest du mir vielleicht jetzt davon erzählen.«
    »Ich kann nicht. Nicht hier. Ich muss es dir zeigen.«
    »Wo?«
    »Weiter oben auf dem Berg. Du musst mitkommen.«
    Sie zögerte.

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