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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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gehört hast. Anscheinend ist er diese Nacht nicht nach Hause gekommen und…«
    »Und was geht das mich an?«
      »Ich muß ihr also antworten lassen, daß du darüber nichts weißt?«
      »Antworte ihr, sie soll sich zum Teufel scheren, samt ihrem Liebhaber!«
      Und als hätte Frau Popinga danach überhaupt noch gewußt, woran sie war:
    »Vor allen Dingen schließ die Tür, ich bitte dich. Und sag dem Mädchen, sie soll nicht so viel Lärm mit ihrem Putzeimer machen.«
      Er hatte Kopfschmerzen und rief seine Frau noch einmal zurück, um sich eine Orange zu bestellen, denn sein Mund fühlte sich pappig an und seine Zunge geschwollen.
      Der Sonnenstrahl verbreitete sich. Draußen herrschte eine trockene, schneidende Kälte; vom Hafen hörte man die Sirenen der Schiffe, die bei der ersten Brücke des Wilhelmina-Kanals angekommen waren und Durchfahrt verlangten. Und lag die ›Ozean III‹ etwa immer noch am Kai? Wahrscheinlich. Der Kapitän hatte wohl seinen Treibstoff bei der Konkurrenz gekauft, zweifellos bei Wrichten, der sich fragen würde, was das zu bedeuten habe.
      Die Angestellten im Büro hatten von alledem keine Ahnung und warteten auf sein Erscheinen.
      Also – er wiederholte es für sich und genoß die Vorfreude – zuerst Pamela… Julius de Coster hatte ihm gesagt, daß sie ein Appartement im Hotel Carlton bewohnte…
      Danach würde er mit seinen fünfhundert Gulden einen Zug nehmen, einen Nachtzug, jawohl, zum Beispiel den »Stern des Nordens«…
      Ob es lange dauern würde, bis man die Kleider von Julius de Coster fände? Nicht weit von der Stelle, an der sie lagen, war ein Spezialgeschäft für Angler. Der schwarze Hut mußte auf dem Schnee sehr auffallen…
      »Also höre, Mama, wenn du mich noch einmal störst, dann…«
      »Kees!… Es ist entsetzlich!… Unvorstellbar!… Dein Chef hat sich ertränkt… Er hat…«
    »Und? Was habe ich damit zu tun?«
    Indem er das sagte, beobachtete er sich im Spiegel, um sicher zu sein, daß sein Gesichtsausdruck völlig gelassen war. Es amüsierte ihn sogar. Er hatte sich immer gern im Spiegel betrachtet, schon als Junge. Er nahm diese oder jene Pose an. Verbesserte hier und da eine Kleinigkeit.
      Im Grunde war er vielleicht schon immer ein Schauspieler gewesen, der sich fünfzehn Jahre lang darin gefallen hatte, würdig und unangreifbar zu erscheinen, das Bild eines guten Holländers abzugeben, überzeugt von sich, seiner Ehrbarkeit, seiner Tugendhaftigkeit, und daß alles, was er besaß, von bester Qualität war.
      »Wie kannst du so reden, Kees?… Begreifst du denn nicht, was ich sage?… Julius de Coster hat sich in voller Absicht ins Wasser gestürzt…«
    »Na und?«
      »Du läßt mich fast annehmen, du hättest etwas gewußt…«
      »Warum soll ich mich aufregen, nur weil ein Mann sich umgebracht hat?«
    »Aber es ist… es ist doch dein Chef und…«
      »Es steht ihm frei zu tun, was er will, nicht wahr? Ich habe dich schon gebeten, mich jetzt schlafen zu lassen.«
      »Das geht nicht! Ein Angestellter ist unten und will dich unbedingt sprechen.«
    »Sag ihm, daß ich schlafe.«
      »Und gewiß wird die Polizei kommen, um dir Fragen zu stellen.«
    »Zeit genug, mich dann zu wecken.«
      »Kees!… Du machst mir Angst!… Du bist nicht richtig bei dir… Deine Augen sind so anders…«
    »Laß mir Zigarren heraufbringen, willst du so gut sein?«
    Diesmal war sie überzeugt, daß ihr Mann ernstlich krank war, zumindest überanstrengt, vielleicht sogar ein bißchen verrückt. In resigniertem Ton wies sie das Mädchen an, eine Kiste Zigarren heraufzubringen, denn es war besser, ihm nicht zu widersprechen. Unten im Flur flüsterte sie lange mit dem Angestellten, der mit hängendem Kopf fortging.
      »Der Herr fühlt sich nicht wohl?« glaubte das Hausmädchen sagen zu müssen, als es ins Zimmer trat.
      »Der Herr hat sich noch nie so wohl gefühlt! Wer hat dir das gesagt?«
    »Madam.«
      Es mußte gegen zehn Uhr sein, und zu dieser Zeit lag immer ein gutes Dutzend Schiffe im Hafen und war beim Löschen der Ladung. Das war, zumal bei dieser Sonne, ein hübscher Anblick, der ihm fehlen würde, weil nämlich die meisten Schiffe grüne, rote oder blaue Deckleisten hatten, die sich im Wasser spiegelten, und manche die ruhige Luft dazu benutzten, ihre Segel zu trocknen. An normalen Tagen sah er sie von seinem Büro aus. Er kannte alle Kapitäne und Steuerleute. Er kannte auch den Ton jeder Sirene, so

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