Der Mann, der den Zügen nachsah
Viertelstunde verlassen. Da es halb fünf und bereits dunkel war, hatte man nicht die Möglichkeit, aus dem Fenster zu sehen.
Kees Popinga hatte in einem Abteil zweiter Klasse Platz
genommen mit noch zwei weiteren Personen: einem kleinen schmächtigen Herrn, vermutlich ein Gerichtsvollzieher oder Bürovorsteher, und, in der Ecke gegenüber, einer Frau in einem gewissen Alter in Trauerkleidung.
Kees’ Hand in der Manteltasche geriet rein zufällig an ein kleines in rotes Maroquin gebundenes Notizbuch mit Goldschnitt, das er für einen Gulden gekauft hatte, um darin seine schwierigen Schachpartien zu notieren.
Das war nichts Außergewöhnliches. Kees war völlig entspannt. In dem Notizbuch waren erst zwei Partien aufgezeichnet, das heißt, nur zwei Seiten waren mit den üblichen Ziffern und Buchstaben bedeckt.
So kam es, daß er den in dem Bändchen steckenden Bleistift herauszog und in das Notizbuch schrieb: M it dem Zug sechzehn Uhr sieben von Groningen abgefahren.
Dann steckte er das Notizbuch wieder in die Tasche und holte es erst hinter der Station Sneek wieder hervor, um hinzuzufügen: kurzer Aufenthalt, um ein Gläschen zu trinken.
Doch sehr viel später sollte dieses Büchlein mit den Notizen darin den Irrenärzten dazu dienen festzustellen, daß Kees schon bei seiner Abreise von Groningen verrückt war.
War nicht vielmehr seine Frau verrückt, wenn sie ihr Jungmädchenalbum sorgfältig aufhob und des Abends mangels neuer Bildchen zum Einkleben allen Ernstes da hinein schrieb: Neue Schuhe für Carl gekauft. Frida ist zum Friseur…
Und gäbe es nichts weiter als das Notizbuch. Seine Mitreisenden, die ihn jetzt kaum zur Kenntnis nahmen, würden sich sämtlich im nachhinein an verdächtige Einzelheiten erinnern.
Indessen war nichts in seinem Verhalten dazu angetan, Neugier zu erregen. Er war ganz ruhig. Vielleicht übertrieben ruhig? Er merkte es selbst, und das erinnerte ihn an zwei Vorkommnisse in seinem Leben, bei denen er ganz von selbst die gleiche Kaltblütigkeit bewiesen hatte.
Die erste Geschichte fiel ihm im Zusammenhang mit dem roten Notizbuch ein, denn es ging dabei um ein Schachspiel. Eines Abends im Club hatte er Zug um Zug drei Partien hintereinander gewonnen, als der alte Copenghem, der ihn nicht leiden konnte, höhnisch bemerkte:
»Keine Kunst, wenn Sie immer nur mit Gegnern spielen, die schwächer sind als Sie!«
Popinga, der sich verletzt fühlte, hatte scharf erwidert. Es war zu gegenseitigen Herausforderungen gekommen, und schließlich hatte Kees vorgeschlagen, Copenghem einen Läufer und einen Turm vorzugeben.
Er sah die Partie wieder vor sich, eine der berühmtesten Partien in diesem Kreis. Obwohl Copenghem ein ausgezeichneter Spieler war, tat Kees so, als wäre er seiner Sache ganz sicher, und erhob sich sogar zwischen den einzelnen Zügen zu einem Rundgang, was den anderen erst recht in Wut brachte. Auf einem Tischchen neben sich hatte er eine halbe Maß Münchner Bier, von dem soeben ein Faß eingetroffen war.
Nach einer Stunde, während der Popinga nicht von seiner geringschätzigen Haltung abgewichen war, sagte der andere mit einem boshaften Lächeln um die Lippen »Schach« und setzte ihn matt.
Das war das Schlimmste, was passieren konnte. Zwanzig oder mehr hatten die Partie verfolgt und die Prahlereien von Popinga gehört.
Dennoch verriet er sich mit keinem Wort, wurde nicht blaß und errötete auch nicht. Er war im Gegenteil von einer unnatürlichen Ruhe und sagte mild:
»So etwas kommt eben manchmal vor, oder nicht?«
Gleichzeitig nahm er, ohne sich etwas anmerken zu lassen, einen der Läufer vom Spiel. Dieses aus Elfenbein geschnitzte Spiel war in ganz Groningen bekannt und Eigentum von Copenghem, der behauptete, mit keinen anderen Figuren als seinen spielen zu können.
Popinga hatte sich einen schwarzen Läufer gegriffen.
Mit einem Blick hatte er die Situation erfaßt und im nächsten Moment ließ er den Läufer in sein Glas mit dunklem Münchner Bier gleiten.
Eine zweite Partie sollte begonnen werden. Man bemerkte, daß ein Läufer verschwunden war, und suchte überall, läutete nach dem Kellner und stellte alle erdenklichen Vermutungen an, ohne an das Glas mit dunklem Bier zu denken, aus dem Kees wohlweislich nicht weiter trank und das später gottweißwohin ausgeleert wurde, denn Copenghem kam nie wieder in den Besitz seines Läufers.
Nun, während dieser ganzen Sucherei hatte Popinga sich
Weitere Kostenlose Bücher