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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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daß ich hinaufginge.«
      Frida weinte ohne richtige Tränen, das war eine ihrer Spezialitäten. Als sie noch ganz klein war, hatte sie schon diese Manie, ohne jeden Grund zu plärren, als wäre sie ein Opfer dieser brutalen Welt. Auf ein Ja oder Nein, auf einen etwas strengen Blick hin brach sie in Tränen aus.
      Aber das war so automatisch, geschah mit solcher Regelmäßigkeit, daß man sich immer fragte, ob sie wirklich traurig war.
    »Stimmt es, daß Herr de Coster tot ist?«
    »Was habe ich denn damit zu schaffen?«
    »Mama behauptet, du seist krank.«
    »Ich?«
      »Sie will Dr. Claes kommen lassen, aber sie fürchtet, daß du dann böse wirst.«
      »Da hat sie gewaltig recht. Ich brauche keinen Dr. Claes, noch sonst jemanden.«
    Komisches Mädchen, wirklich! Kees hatte sie nie verstanden und verstand sie jetzt weniger denn je. Was sollte das, ihn in seinem Bett zu betrachten, mit verängstigten Augen? Hatte er ihr je etwas zuleide getan?
      Dann, trotz ihrer Tränen und mit ihrer einmaligen Fähigkeit, in die Realität zurückzufallen:
      »Was soll ich Mama sagen? Daß du zum Essen herunter kommst?«
    »Ich komme nicht herunter.«
    »Also müssen wir ohne dich essen?«
      »Genau! Eßt! Weint! Meinetwegen, aber laßt mich um Himmels willen in Ruhe!«
      Er hatte nicht etwa Gewissensbisse. Dennoch war es peinlich. Er hätte besser getan, früh am Morgen wegzugehen, mit nichtssagender Miene, daß sie glaubten, er ginge in sein Büro wie alle Tage.
    Jetzt war er nicht einmal mehr ganz sicher, was er tun
    werde. Er sah eine Menge von Unannehmlichkeiten voraus. Und obendrein fürchtete er, seinen Schwager Merkemans erscheinen zu sehen, der in seiner aufdringlichen Art seine guten Dienste anbieten würde. Denn so war er! Es gab keinen Sterbefall im Stadtviertel, ohne daß er sich alsbald zur Totenwache anbot.
    »Geh essen… Laß mich allein…«
      Wenn er nur zwei oder drei Gläschen Schnaps kriegen könnte!
      Aber es gab keinen im Hause. Höchstens ein Fläschchen Bitterlikör für besondere Gelegenheiten, wenn jemand unerwartet zu Besuch kam. Außerdem war diese Karaffe links im Büfett unter Verschluß.
    »Auf Wiedersehen, Frida!«
    »Auf Wiedersehen, Papa.«
    Sie verstand nicht, daß er das unwillkürlich auf eine ganz besondere Art sagte, und sie spürte nicht, daß er sie mit dem Blick bis zur Tür verfolgte, ehe er sein Gesicht im Kopfkissen vergrub.
      In Wahrheit wußte er selbst nicht weiter. Er hatte alle erdenkliche Mühe, an Pamela und an alles Folgende zu denken.
      Zum Glück kam um zwei Uhr die Nachricht, daß die Polizei, die sich in den Büros von de Coster niedergelassen hatte, ihn zu befragen wünsche.
      Er zog sich sorgfältig an, betrachtete sich lange im Spiegel, ging hinunter und verweilte einen Augenblick bei seiner Frau.
      »Meinst du nicht, daß ich dich besser begleiten würde?« wagte sie zu fragen.
      Das war seine Rettung. Er würde ein bißchen zögern. Aber die Tatsache, daß sie ohne jeden Grund die Gefahr witterte, daß sie sich darauf einstellte, ihr die Stirn zu bieten…
      »Ich bin Manns genug, um diese Dinge da allein in Ordnung zu bringen.«
      Ihre Augen waren gerötet, auch die Nase, wie jedesmal, wenn sie geweint hatte. Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, ein Zeichen, daß sie sich ihre eigenen Gedanken machte.
    »Nimmst du dein Fahrrad?«
    »Nein! Warum weinst du?« fragte er unwirsch.
    »Ich weine nicht.«
      Sie weinte nicht, aber dicke Tränen rollten ihr über die Wangen.
    »Dummchen!«
    Dieses Wort würde sie niemals verstehen, sie würde niemals wissen, daß es das zärtlichste Wort war, das er je im Leben an sie gerichtet hatte.
    »Du kommst nicht zu spät zurück?«
      Zu dumm, daß auch er nahe daran war zu weinen. Die fünfhundert Gulden waren in seiner Tasche. Aber die zweihundert, die im Zimmer bereitlagen, um übermorgen eine Rechnung zu bezahlen, hatte er nicht angerührt.
    »Hast du deine Handschuhe?«
      Er hatte sie vergessen. Sie brachte sie ihm, gab ihm keinen Kuß, denn das war im Hause nicht üblich. Sie begnügte sich, auf der Schwelle stehenzubleiben, ein wenig vorgeneigt, während er fortging und der Schnee unter seinen Gummischuhen knirschte.
    Er mußte alle Kraft aufbieten, sich nicht noch einmal umzuwenden.

    3

    Von einem kleinen Notizbuch in
    rotem Maroquin, von Popinga für
    einen Gulden an einem Tag gekauft,
    als er im Schach gewonnen hatte

    Der Zug hatte Groningen seit einer

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