Der Mann, der die Frauen belog - Roman
kleine Mädchen, das sich vor noch nicht allzu langer Zeit ihr Essen aus Mülltonnen zusammengesucht hatte, kreuzte artig die Knöchel, wie sie es bei Helen gelernt hatte.
»Was Besseres hatte Louis dir also nicht zu bieten?«, fragte Helens Schwester Alice, die schon viel zu lange das große Wort führte und ziemlich laut sprach. Zu laut, fand Kathy Mallory, für die sanfte Helen Markowitz.
»Nicht mal eine Blutsverwandte, sondern ein Gör aus der Gosse! Eine, die keiner hat haben wollen!«
Helens Mutter, die bis dahin geschwiegen hatte, stützte sich auf ihren Stock und stand auf. Das Hausmädchen, das ihr helfen wollte, wurde ungeduldig abgewiesen. »Genug«, sagte sie barsch. »Genug, Alice! Was geschehen ist, ist geschehen!«
Als Alice den Mund aufmachte, brachte Helens Mutter sie mit der gleichen ungehaltenen Bewegung zum Schweigen, mit der sie das Dienstmädchen abgewehrt hatte. Aber das Unglück war schon geschehen: Helen weinte bitterlich. Wie eine Kanonenkugel schoss Kathy auf Helens Schwester los und sagte leise und drohend, mit einem Hass, der tief aus dem Bauch kam: »Wenn du Helen noch ein einziges Mal zum Weinen bringst, kriegst du ein Messer in die Kniekehlen, du Fotze!«
»Sag nicht Fotze, Kind«, mahnte Helen sanft und steckte die Kinderarme in den neuen Wintermantel. Im Gehen hörten sie Helens Mutter schallend lachen. Kathy wollte sofort kehrtmachen, um die alte Dame windelweich zu prügeln, aber das ließ Helen nicht zu. Helen schaffte es meist nur durch einen Blick oder eine leichte Berührung, die wandelnde Gewitterfront Mallory zum Abzug zu bewegen.
Vierzehn Jahre waren seitdem vergangen. Helen lag seit vier Jahren unter der Erde, und aus dem verwüsteten Gesicht von Alice sahen Helens Augen zu Mallory hoch.
»Ich hab gedacht, du bist tot«, sagte Alice.
»Ein Irrtum, wie du siehst.«
Enttäuscht, Tante Alice?
»Aber ich hab’s in den Abendnachrichten gehört«, sagte Alice, als habe sie Mallory bei einer Lüge ertappt. »Egal. Ein bisschen spät für einen Besuch, was? In mehr als einer Hinsicht …«
»Ich habe dich bei der Beerdigung von Markowitz gesehen.«
Sekundenlang hatte Alice, Helen ähnlich wie ein Gespenst, zaudernd am offenen Grab gestanden. Als Mallory wieder hinsah, war das Gespenst verschwunden gewesen.
»Ich dachte mir, dass Helen gern jemand von ihrer Familie dabeigehabt hätte«, sagte Alice. »Es wäre in ihrem Sinne gewesen.«
»Das war es sicher. Danke.«
»Du hast dich nicht wesentlich verändert. Aber du hast eben auch damals nicht wie ein kleines Mädchen ausgesehen, du hattest immer schon erwachsene Augen. Ein beängstigendes Kind. Gewalttätig, rüde, unzivilisiert …«
Mallory zuckte nicht mit der Wimper. Es stimmte ja alles.
»Ich weiß, wo du jetzt wohnst, Kathy. Nur ein paar Ecken weiter, in einer teuren Eigentumswohnung. Warum bist du hier? Du willst Geld, was?«
»Ich brauche kein Geld.«
»Was dann?« Alice beugte sich jäh vor, in den feuchten blauen Augen blitzte es kriegerisch auf. »Was könntest du von mir wollen?« Ihre Stimme war hoch und brüchig. »Du hast mir meine Schwester weggenommen. Weißt du eigentlich, dass sie danach nie mehr mit mir gesprochen hat? Weißt du, wie sehr ich Helen geliebt habe?«
Das Aufstehen schien Alice schwerzufallen. Trug auch Alice die Krankheit in sich, an der ihre Schwester gestorben war? Sie wirkte schmal und matt.
Aber mit diesem Ausbruch war ihr Vorrat an Gehässigkeit schon aufgebraucht. Sie ließ sich in den Sessel zurückfallen und fing an zu weinen. Mallory spendete weder Trost noch zog sie sich zurück, sondern wartete in aller Ruhe, bis es vorbei war.
»Warum bist du gekommen? Was willst du von mir?«
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Eine ziemlich gemischte Gesellschaft, die jetzt in den Coventry Arms wohnt. Die Rockstars feiern laute Partys, und die Politiker sind auch nicht viel besser«, sagte die alte Dame. Sie musste hoch in den Achtzigern sein.
»Wir haben einen Prominenten vom Fernsehen im Haus und einen Schauspieler«, ergänzte ihr Mann, der Mallory als Ronald Rosen vorgestellt worden war.
Mrs. Rosen nickte bestätigend. »Zu meiner Zeit hätte man keine Leute vom Theater in ein anständiges Haus gelassen.«
»Zu deiner Zeit, Hattie«, sagte ihr Mann, »herrschte auf der West Side eine Gangsteraristokratie.« Er wandte sich an Mallory. »Als Kind habe ich Botengänge für Owney Madden gemacht, den Herzog der West Side. In den Schmugglerkriegen während der Prohibition habe
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