Der Mann, der die Frauen belog - Roman
Leute ganz ungeniert. Weil er blind ist, denken sie wohl, er müsste auch taub und trottelig sein.« Sie legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. »Hallo, Eric. Hier ist Mallory, eine neue Hausbewohnerin.«
»Guten Tag«, sagte Eric Franz.
Seine Stimme klang gebildet, was aber in diesem Kreis recht wenig über sein Vorleben aussagte. Ohne Stock und Brille fiel er, mit leeren Augen ins Nichts blickend, erst recht aus dem Rahmen.
Betty Hyde gab ihm seinen Stock und die Brille in die Hand. »Was siehst du zwischen mir und der Tür?«, fragte er.
»Vier äußerst unerfreuliche Zeitgenossen. Wenn du mir einen Gefallen tun willst, brätst du ihnen mit deinem Stock eins über.«
Mit der Sicherheit eines Sehenden schaffte er es bis zum Ausgang, ohne irgendwo anzustoßen. Und Mallory überlegte sofort, ob sein Orientierungssinn nicht vielleicht ein bisschen zu gut entwickelt war. Wie mochte es zu der Erblindung gekommen sein? Und – hatte seine Frau eine Lebensversicherung gehabt?
»Ganz blind ist er nicht«, sagte Betty in ihre Überlegungen hinein. »Er kann Schatten und dunkle Gestalten ausmachen, und damit kann man in New York City schon überleben.«
Mallory wusste, dass Harry Kipling sie beobachtete. Sie sah aus dem Augenwinkel sein dunkles Haar, sah, wie er den Kopf wandte, als sie mit Betty Hyde vorbeiging. Seine Frau verfolgte jede seiner Bewegungen mit verbitterter Miene. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich Hass, Wut, Misstrauen und Schmerz.
Eine glückliche Ehe war das nicht …
»Ich kenne den Anwalt, der den Ehevertrag ausgearbeitet hat«, sagte Betty Hyde. »Der Sohn der Kiplings kriegt das Geld, wenn er volljährig ist. Ich habe den Jungen nur einmal gesehen.«
»Ich habe hier im Haus bisher überhaupt kaum Kinder gesehen.«
»Meist sieht man gar keine. Kinder aus diesen Kreisen gehören zu einer neuen Sorte von Obdachlosen. Sie werden frühzeitig ins Internat gesteckt, kommen nur in den Ferien nach Hause oder können von den Eltern gegen angemessene Vergütung sogar das ganze Jahr über in der Schule geparkt werden.«
»Haben die Hearts Kinder?«
»Richter Heart hat eine Tochter aus einer früheren Ehe. Ich kenne sie nur aus den Publicityfotos, die jetzt, nach seiner Nominierung zum Obersten Gerichtshof, in den Sonntagsbeilagen erschienen sind. Aber irgendwie habe ich den Verdacht, dass sie sich für die Fototermine einfach ein Mädel ausgeliehen haben.«
»Hat die Tochter sich was zuschulden kommen lassen?«
»Sie meinen in Richtung Drogensucht oder Ladendiebstahl? Das kommt in dieser Schicht so häufig vor, dass sich keiner darüber aufregt. Für so was würde ich meinen Computer gar nicht erst anwerfen.«
»Könnte es einen anderen Grund dafür geben, warum man sie nicht sieht? Dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt zum Beispiel?«
»So dass die Familie sich schämt und sie wegsperrt? Interessanter Gesichtspunkt. Ich prüfe das mal. Was Schriftliches gibt’s darüber bestimmt nicht. Hinter dem Richter steht eine Menge Geld.«
»Und der blinde Eric?«
»Nein, er und Annie hatten keine Kinder, falls man den Blindenhund nicht rechnet. Und das ist ein so guter Kerl, dass man ihn nie für Annies leibliches Kind halten würde.«
»Eine schlechte Ehe?«
»Sehr liebevoll ging es bei den beiden nicht zu. Sie machte sich einen Spaß daraus, die Möbel so umzustellen, dass er darüberfallen musste. Und er hat überall herumerzählt, Annie hätte ihm Hundefutter aufgetischt. Er hat es wohl als Witz gemeint, aber wahrscheinlich war was dran. Sie hatte einen etwas abartigen Sinn für Humor.«
Er betrat die Küche zu später Stunde und allein. Als er mit der flachen Hand auf das Schneidbrett schlug, sprang die Obstschale hoch und kippte um, so dass die Äpfel herausrollten.
Diese Nutte.
Sie wusste, was er gemacht hatte und was für einer er war. Sie wusste Bescheid.
Ein Apfel, rot wie ihre Lippen, rollte über das Brett. Er hielt die reife Frucht mit einer Hand fest, tastete mit der anderen nach einem Obstmesser und stach hinein, bis der Saft herausquoll. Dann machte er sich langsam und genüsslich ans Schälen und meinte die Schreie zu hören, die der zerfleischte Apfel ausstieß.
Nutte.
Alle Weiber sind Nutten.
Mallory saß in der Bibliothek der Rosens. Fünf Minuten hatten genügt, um in das Herz des Computersystems vorzudringen. Mit dem Datenschutz war es in den Coventry Arms nicht weit her. Jetzt ließ sie die Mieterdateien über den Schirm rollen und notierte sich die Zugänge zu drei
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