Der Mann, der die Frauen belog - Roman
tatsächlich nichts Übernatürliches, glaub mir das«, sagte Charles.
Justin sah aus dem Taxifenster auf die Schneeflocken, die lautlos gegen die Scheibe schlugen, und machte den Mund nicht auf.
»Wenn ich heimkomme, gehe ich gleich in den Keller und sehe mir die Zielscheibe genauer an. Wahrscheinlich hast du beim Dagegenlehnen den Mechanismus ausgelöst. So einfach ist das. Im Grunde brauche ich gar nicht nachzusehen. Nein, ich werde auch nicht nachsehen, denn ich vertraue dir. Es gibt keine andere Erklärung, Justin. Niemand hat das Messer durch die Luft fliegen lassen. Okay?«
Der Junge drehte sich um. In seinem Kindergesicht stand ein mühsames Lächeln.
Vor der Schule auf der Upper East Side stiegen sie aus. Charles wollte warten, bis Justin sich den anderen Schülern angeschlossen hatte, die in Dreier- oder Vierergruppen auf dem Schulhof herumstanden, aber er wartete vergeblich. Die Hände in den Taschen vergraben, in schweigender Übereinkunft von den anderen gemieden, blieb Justin allein.
Charles gab es einen Stich. Ihm war, als sähe er eine Szene aus seiner eigenen Schulzeit. Eine Glocke rief die Jungen zurück ins Schulgebäude. Zu zweit und zu dritt gingen sie hinein. Nur Justin hatte niemanden neben sich.
Charles spannte seinen Schirm auf, denn das Schneetreiben war stärker geworden. Auf der anderen Seite der breiten Straße lag der Park. Am anderen Ende des Parks wohnte Mallory. Und dort war auch der Tatort.
Leere Taxis rollten hoffnungsvoll an ihm vorbei, aber er ging gern zu Fuß durch den Schnee. Es war etwas, was man auch allein machen konnte – eine Überlegung, die in seiner Lage so wichtig war, wie sie es später einmal für Justin sein würde.
Er überquerte die Straße und ging durch eine unberührte Schneelandschaft bis zu der Fahrstraße, die quer durch den Park führte. Was mochte wohl Mallory jetzt treiben? Halt … Wollte er das wirklich so genau wissen?
Eine Pferdekutsche kam ihm entgegen. Der Schnee stäubte auf seinen Schirm, und erst jetzt ging ihm auf, dass seine Schuhe nicht für so ein Wetter gemacht waren. Trotzdem ließ er die Kutsche vorbeifahren. Schuhe kann man ersetzen, frisch gefallenen Schnee gibt es nicht alle Tage. Er setzte seinen einsamen Weg fort.
Was hätte Markowitz dazu gesagt, dass Mallory nicht am Tatort gewesen war? Charles hatte den Verdacht, dass es vor allem Rikers schulmeisterliche Bemerkung gewesen war, die sie vergrätzt hatte. Aber wahrscheinlich hatte sie damit sowieso nichts versäumt.
Wenn er nun am Tatort etwas entdeckte, was den Fall weiterbrachte? Immerhin waren sie Partner …
»Alles ist eitel auf dieser Welt«, ließ sich plötzlich eine Stimme unter Charles’ Schirm vernehmen. »Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd.« Der Mann, der so unerwartet an seiner Seite aufgetaucht war, schien ein Gespräch mit einem unsichtbaren Dritten zu führen.
Er war alt und so viel kleiner als Charles, dass der von oben die kahle Stelle in dem verfilzten grauen Haarschopf sah. Sein neuer Begleiter trug einen schmutzigen Wollmantel, der einmal bessere Tage gesehen hatte, und um den Hals einen langen Schal, den er hinter sich herzog wie eine Schleppe und der so vielfarbig schillerte wie ein angeschmuddelter Regenbogen. Der Mann hielt mit ihm Schritt und akzeptierte den Schutz seines Schirms wie eine Selbstverständlichkeit.
Charles fröstelte unwillkürlich. Er sah Wahn und Tollheit neuerdings mit anderen Augen. Auch er hatte ja Gespräche mit einer Person geführt, die gar nicht da war. Wie oft hatte sich wohl Malachai an diesem Trick versucht, bis das Unglück geschehen war, bis er Louisa nicht mehr hatte wegschicken können?
»Ich bin Alpha und Omega, der Anfang und das Ende.«
»Ich bin Charles Butler. Guten Tag.« Schützend hielt er den Schirm über seinen grauhaarigen Gefährten.
»Da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack«, tönte der Alte.
»Ja, das Wetter könnte wirklich besser sein«, bestätigte Charles.
»Ein Weib, mit der Sonne bekleidet und den Mond unter ihren Füßen.«
Was hat wohl Mallory heute erlebt? Was macht sie gerade?
»Und es erhub sich ein Streit im Himmel.«
Das mit dem Streit konnte hinkommen …
Mit diesem Satz trennte sich der Alte von Charles, um mit seinem unsichtbaren Gesprächspartner den verschlungenen Pfaden der Offenbarung auf einem anderen verschneiten Parkweg nachzugehen.
Als Charles zum Tatort kam, wehten die gelben Plastikbänder verloren im Wind.
Er ging
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