Der Mann, der ins KZ einbrach
Höhepunkt erreichte, murmelte Irene, in eigenen Träumen versunken, irgendetwas im Schlaf.
Ich musste für Stille sorgen, sonst wurde ich erwischt und getötet. Noch im Schlaf warf ich mich auf sie, um sie zum Schweigen zu bringen. Sekunden verstrichen, ehe ich aufwachte und begriff, was ich tat: Ich hatte meine Hände an ihrer Kehle. Ich setzte mich auf die Bettkante, keuchend und verschwitzt. Ich wusste, dass ich Irene verletzt hatte. Sie konnte kaum sprechen und hatte tagelang rote Würgemale am Hals. Es war ein furchtbarer Augenblick. Ich war ganz unten angekommen.
Es musste etwas geschehen. Am nächsten Tag ging ich zum Arzt und zur Polizeiwache und schilderte, was ich getan hatte. Mir blieb keine Wahl. Ich war zutiefst erschüttert. Seit ich in London das Gedächtnis verloren hatte, wusste ich, dass ich ein wandelndes Pulverfass war, und damals war ich auch zur Polizei gegangen. Nur war es diesmal viel, viel schlimmer.
Ich hielt mich für gemeingefährlich und wäre nicht traurig gewesen, wenn sie mich eingesperrt hätten. Ich wünschte mir beinahe, dass sie mich hinter Gitter brachten. Es hätte verhindert, dass noch Schlimmeres geschah. Sie hörten mir zu, aber sie nahmen mich keine Sekunde lang ernst.
Auch der Arzt war keine Hilfe. Er gab mir ein paar Tabletten und schickte mich weg. Ich weiß nicht, was für ein Medikament es war. Lange bevor jemand von Posttraumatischer Belastungsstörung sprach, hielt diese Krankheit mich in ihren Klauen. Ich fühlte mich ganz allein. Ich ahnte nicht, dass unzählige andere genauso litten wie ich. Ich hatte nie zugelassen, ein Opfer zu werden. Dass ich nun ein Opfer meines eigenen Geistes war, traf mich hart.
Ich wusste, dass ich den Schmerz und die Verzweiflung irgendwie umleiten musste. Ich musste mich selbst heilen. Willenskraft hatte mich durch den Krieg gebracht, durch die Lager und durch den langen Marsch Richtung Heimat. Ich hatte mir immer wieder gesagt, dass man meinen Geist nicht gefangen nehmen könne, aber jetzt hielt mein Geist mich in Gefangenschaft, und ich wurde von ihm vernichtet. Ich musste die Kontrolle zurückerlangen.
Ich begann mit Judo, weil dieser Sport mich anzog. Er war eine Brücke zwischen den kämpferischen Traditionen, mit denen ich aufgewachsen war, dem Boxen und dem Leben beim Militär. Beim Boxen waren Taktik und Beweglichkeit wichtig gewesen, doch jetzt lernte ich, die Kraft und die Wut eines Gegners gegen ihn selbst zu richten. Ich brauchte mich nicht zu ducken und zu schlagen, ich musste nur den Drehpunkt finden, und der Gegner stürzte. Ich trainierte, bis ich den Schwarzen Gürtel hatte. Die Philosophie, die hinter dem Judo steht, faszinierte mich ebenfalls. Mir gefiel die Vorstellung, die Schmerzschwelle zu überwinden. Der Geist ist etwas Wunderbares. Er hatte es mir möglich gemacht, die Dinge zu tun, die ich getan hatte. Aber konnte ich mich auch selbst heilen?
Ich hätte gern den Buddhismus studiert und mich mit fernöstlichen Religionen befasst, aber damals tat man so etwas nicht. Meine Arbeit nahm mich zu sehr in Anspruch, und wahrscheinlich wäre es ohnehin nicht mein Ding gewesen. Die Reise zur Wiederherstellung meiner Gesundheit dauerte Jahre, sogar Jahrzehnte. Auf jeden Fall war es keine Gesprächstherapie, für die ich mich entschied, eher das Gegenteil. Ich zog mich noch weiter zurück in mein Schweigen über den Krieg und alles, was ich getan und gesehen hatte. Es war Vergangenheit, vergessen und begraben, und hatte keinen Platz in meinem Leben. Ich musste nach vorn blicken.
Berichte unserer Erlebnisse als Kriegsgefangene fanden in der Öffentlichkeit keinen Anklang. Die Leute wollten von waghalsigen Fluchtversuchen hören, nicht von Zwangsarbeit. Deshalb standen bei den Spielfilmen über Gefangenenlager jedes Mal die Offiziere im Mittelpunkt, die von den Nazis nicht zur Arbeit gezwungen worden waren. Die Erlebnisse der einfachen Kriegsgefangenen wurden begraben und vergessen. Die Leute wollten Kriegshelden und siegreiche Schlachten, keine Niederlagen oder schimpfliche Gefangennahme. Sie wollten Augenblicke des Ruhms, keine langatmigen Geschichten über das Erdulden von Höllenqualen. Wir hatten unsere Rolle gespielt. Danach, jedenfalls in den ersten Nachkriegsjahren, wurden wir nicht mehr beachtet.
Allmählich bekam ich die schlimmsten Albträume unter Kontrolle. Ich konnte sie nicht besiegen, aber wenigstens besiegten sie mich nicht mehr. Schon immer hatte ich schnelle Autos gemocht, und nun verlegte ich mich
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