Der Mann, der ins KZ einbrach
aber das war immer noch besser, als gar nichts zu tun. Selbst mit einer Zigarettenkippe konnte man sich in Auschwitz etwas ertauschen.
Als ich die Filtrationsanlage verließ und das Hämmern und das helle Licht der Schweißbrenner hinter mir zurückblieben, bemerkte ich sofort, dass ein junger jüdischer Häftling mich nicht aus den Augen ließ. Ich nahm an, dass er wartete, ob ich vielleicht eine Zigarette fallen ließ. Sein Kopf war wie bei den anderen kahl geschoren, aber er hatte irgendetwas Besonderes an sich. Sein Gesicht zeigte mehr Ausdruck. Und er sah noch nicht aus wie ein wandelnder Leichnam, obwohl ich wusste, dass es nicht mehr lange so bleiben würde – irgendwann sahen sie alle so aus. Ich weiß noch, wie einmal Transporte mit ungarischen Juden eintrafen. Unter ihnen waren große, kräftige Kerle. Nach vier Monaten bestanden sie nur noch aus Haut und Knochen, und viele lebten schon nicht mehr.
Der junge Bursche war vielleicht neunzehn Jahre alt und irgendwie anders als die anderen. Ich bemerkte sofort, dass seine Zebrakleidung dicker war als bei den meisten und nicht so abgewetzt; vielleicht war sie sogar sauberer als üblich. Das machte mich zuerst misstrauisch. Vielleicht war er einer der wenigen Bevorzugten, der »Prominenten«, die auf fragwürdige Art und Weise in der Lagerhierarchie aufstiegen. Das erschien mir zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber sicher konnte ich nicht sein.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
»Ernst«, antwortete er. »Und du?«
Irgendwie bewirkte sein Verhalten, dass meine Vorsicht nachließ. Er hatte etwas an sich, das ich auf Anhieb mochte.
»Du kannst Ginger zu mir sagen«, sagte ich. Ich glaube, ich gab ihm eine Zigarette, und dann trennten wir uns. Das war alles. Bis ich ihn wiedersah, vergingen ein paar Tage. Wir blickten uns nicht an; das war viel zu gefährlich, solange man beobachtet werden konnte. Deshalb redeten wir, während wir gingen. Ernst hatte Schwierigkeiten mit seinem Englisch. Aber kaum hatte ich verstanden, was er mir mitzuteilen versuchte, als sich alles änderte, denn er sagte unbeholfen: »Ich habe Schwester in England.«
Das haute mich beinahe um. Hatte ich richtig verstanden? Er hatte eine Schwester in England? Ich blickte ihn staunend an. Er war müde, sah aber nicht so ausgelaugt aus wie die anderen. In einer Mischung aus Englisch und Deutsch erklärte er mir, dass seine Schwester 1939 nach Großbritannien hatte fliehen können – eine der Letzten, die Deutschland verließen. Sie heiße Susanne, sagte er, und habe es nach Birmingham geschafft. Den Namen einer englischen Stadt, die ich kannte, aus dem Mund dieses armen Teufels zu hören, brachte mich völlig aus dem Gleichgewicht. Es schuf eine Art Verbindung zwischen uns, und ich fühlte mich ihm näher. Ich war kein gefühlsbetonter Mensch; aber in diesem Augenblick wurde mir klar, wie viele Emotionen und Gedanken ich ausblendete, um hier überleben zu können. Seine Schwester war in Birmingham in Sicherheit, und er steckte in diesem widerlichen Höllenkessel fest.
»Hast du ihre Adresse?«, fragte ich. Er bejahte, sagte aber, er müsse sie sich erst wieder ins Gedächtnis rufen. Ich fragte mich, ob er bloß vorfühlen wollte. Wahrscheinlich war ihm klar, dass er nur eine einzige Chance hatte, und die wollte er nicht vermasseln. Ich musste warten.
Als ich ihn das nächste Mal traf, kannte er die Anschrift seiner Schwester genau: 7 Tixall Road, Birmingham. Ich prägte sie mir ein und versprach ihm, dass ich versuchen würde, seiner Schwester einen Brief zu schicken. Mit diesem Versprechen begann ein Rätsel, bis zu dessen Auflösung fast sieben Jahrzehnte vergehen sollten.
Ernst hatte ein verschmitztes, kluges Gesicht. In den wenigen Monaten, die ich ihn kannte, sah ich nie, wie er geprügelt wurde, während es für die meisten KZ -Häftlinge nur eine Frage der Zeit war, bis es geschah. Eine Verletzung oder Prügel beschleunigten den Verfall.
Als ich wieder in unserem Lager war, überlegte ich lange und ausgiebig, wie ich am besten Verbindung zu Ernsts Schwester aufnehmen sollte. Vielleicht konnte sie noch nicht gut Englisch lesen. Oder sie traute mir nicht. Schließlich beschloss ich, den Kontakt zu Susanne über meine Mutter herzustellen, die meine bewusst verschwommenen Nachrichten wahrscheinlich am besten verstand.
Als ich den Stift aufs Papier setzte, bat ich Mutter, Susanne zu schreiben und ihr mitzuteilen, dass ich mit ihrem Bruder im britischen Kriegsgefangenenlager sei. Ich
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