Der Mann, der ins KZ einbrach
auffliegen lassen. Ich hatte oft genug mit angesehen, wie Kapos ungerührt Menschen ermordeten.
Über Hans leitete ich Zigaretten an zwei seiner Leidensgefährten aus seinem Arbeitskommando weiter. Sie müssten mich führen und mir zeigen, wohin ich zu gehen hatte. Als es fast so weit war, schnitt ich mir das Haar mit einer alten Schere und schor die Stoppeln mit einem stumpfen Rasiermesser ab.
Gegen Ende der Schicht schmierte ich mir Erde ins Gesicht, besonders auf die Wangen und unter die Augen, um das kränkliche Aussehen eines völlig erschöpften Mannes vorzutäuschen. Ich musste an die zahllosen Spähtruppeinsätze denken, als wir in der Wüste in feindliche Stützpunkte vorgedrungen waren. Ich war bereit.
Aber warum tat ich das? Wieso gab ich freiwillig den geschützten Status eines britischen Kriegsgefangenen auf, um an einen Ort zu kommen, an dem es keine Hoffnung und Menschlichkeit gab?
Ich will es Ihnen sagen. Ich wusste, dass die Insassen von Auschwitz schlimmer behandelt wurden als Tiere. Ich kannte zu dem Zeitpunkt noch nicht die Unterschiede zwischen den einzelnen Lagern. Ich wusste nicht, dass Auschwitz I im Westen von uns das höllische Vernichtungslager war, bis Auschwitz-Birkenau noch weiter westlich errichtet wurde und neue Maßstäbe setzte, was die industrielle Vernichtung von Menschenleben anging. Ich wusste nicht, dass Auschwitz III – oder Auschwitz-Monowitz, das Lager gleich neben dem unseren – das am wenigsten tödliche der drei Lager war. Ich wusste nur, dass vor meiner Nase Juden ermordet wurden und dass alle, die zum Arbeiten zu schwach waren, »durch den Schornstein« gingen. Wenn ich in die Gesichter der jüdischen KZ -Häftlinge mit ihren hohlen Wangen und den dunklen, eingesunkenen Augen schaute, kam es mir so vor, als blickte ich in eine leere Wüste. Da war einfach nichts mehr. Alle Empfindungen, jedes Gefühl war verdorrt. Ich musste mit eigenen Augen sehen, was dort geschah. Ich musste selbst in ihr Lager.
Immer wieder flehten sie uns an, der Welt zu sagen, was wir gesehen hatten, falls wir je nach Hause kämen. Die »Gestreiften« wussten genau, was geschah. Der Gestank, der von den Krematorien herüberwehte, verriet ihnen alles, was sie wissen mussten. Sicher, wir alle hatten von den Gaskammern und Selektionen gehört, aber das genügte mir nicht. Für Mutmaßungen und Spekulationen habe ich nie etwas übrig gehabt. Ich wusste vielleicht nicht, welches Lager welche Funktion erfüllte, aber ich musste mit eigenen Augen sehen, was normale Menschen in Schattenwesen verwandelte.
Auschwitz und die Buna-Werke der IG Farben mit ihren zahllosen Zwangsarbeitern waren ein Inferno. Tag für Tag beobachtete ich hilflos und machtlos die Brutalität. Dass ich nichts dagegen unternehmen konnte, besudelte mich und mein Leben. Ich konnte nicht zulassen, dass es so weiterging.
Selbst zu dieser Zeit, als Kriegsgefangener, war ich mir sicher, dass unsere Seite die Deutschen besiegte und dass wir eines Tages die Verantwortlichen für diese Gräuel zur Rechenschaft ziehen würden. Ich wollte die Namen der Kapos und SS -Führer erfahren, die diese Scheußlichkeiten begangen hatten. Ich wollte so viel von den Schrecken sehen wie nur möglich. Ich wusste, dass es eine Reaktion auf diese Ungeheuerlichkeiten geben würde und dass es eines Tages zur Abrechnung kam.
Denn etwas tun konnte ich durchaus, und ich fühlte mich dazu verpflichtet. Viel war es nicht. Aber wenn es mir gelang, nach Monowitz hineinzukommen und mit eigenen Augen zu beobachten, was dort vor sich ging, konnte ich es vor Gericht bezeugen.
Es gab noch einen weiteren Antrieb für mich, der aber nichts mit hehren Motiven zu tun hat, sondern nur mit mir selbst. Ich war von jeher ein Anführer gewesen, kein Gefolgsmann; zumindest glaubte ich das von mir. Meine Träume, Offizier zu werden, waren zunichte gemacht worden. Mein Krieg war bei Sidi Rezegh vorzeitig zu Ende gegangen. Doch ich war noch immer Soldat, und jetzt hatte ich ein Ziel. Ich konnte es schaffen.
12. Kapitel
D er Abend rückte näher. In Kürze würden die britischen Kriegsgefangenen sich fünfzig Meter von den KZ -Häftlingen entfernt zum Rückmarsch nach E715 aufstellen. Als die jüdischen Arbeitskommandos eine eigene Kolonne für den mühseligen Rückweg zu ihrem Lager bildeten, war es so weit.
Während die Häftlinge und die Kriegsgefangenen durcheinanderwimmelten, machte ich mir den abendlichen Wirrwarr zunutze und ging zielstrebig zur »Bude«,
Weitere Kostenlose Bücher