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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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fungierte.
    Es dauerte eine Weile, bis ich ihn wiedersah. Ich wartete auf eine Gelegenheit, in seine Nähe zu kommen, und flüsterte ihm zu, dass er mich in fünf Minuten an einer abgeschiedenen Stelle treffen solle, die wir vorher vereinbart hatten.
    Als er kam, vergewisserte ich mich, dass wir allein waren. Dann zog ich den Brief seiner Schwester aus der Tasche. Als Ernst begriff, was er da vor sich hatte, war er vor Freude ganz aus dem Häuschen. Ich sagte ihm, er solle den Brief mitnehmen und lesen; dann gab ich ihm durch eine Geste zu verstehen, das Schreiben anschließend zu zerreißen. Ernst hatte alles verloren, wie jeder andere KZ -Häftling auch. Ihn aufzufordern, den Brief zu vernichten – wahrscheinlich seinen einzigen persönlichen Besitz –, war sehr viel verlangt. Ich wusste, wie schwer es ihm fallen musste, aber unser beider Sicherheit hing davon ab, und ich vertraute auf ihn. Er nahm den Brief und versteckte ihn in seiner Häftlingskleidung.
    Ich sah mich noch einmal genau um, dass niemand kam, ehe ich die ersten Zigaretten und eine Tafel Schokolade aus meiner Felduniform zog. Hätte ich ihm alle Zigaretten auf einmal gebracht, wäre das Risiko zu groß gewesen, sie alle zu verlieren; es waren zu viele, um sie am Körper zu verstecken. Ich versprach Ernst, ihm die Zigaretten nach und nach zu übergeben. An diesem Ort und zu dieser Zeit stellten sie einen immensen Wert dar, und das wusste Ernst nur zu gut.
    Ich war von vielen Verzweifelten umgeben. Ihnen war alles geraubt worden. Man hatte ihnen Ehefrauen, Kinder, Eltern und Großeltern genommen, die schon bei der Ankunft ermordet worden waren. Wer verschont blieb, wurde ausgebeutet, durch Arbeit zerbrochen und zu Tode geschunden. Diese Menschen wussten, dass ihre Angehörigen vergast und anschließend verbrannt worden waren. Am Ende würden Verzweiflung, Krankheit, Auszehrung oder Prügel auch sie umbringen.
    In dieser Umgebung gab ich Ernst einen Brief und ein Geschenk von seiner Schwester in England. Mehr konnte ich nicht für ihn tun. Ich wusste nicht, was er mit den Zigaretten anstellen würde, für welches Essen oder welche Gefälligkeiten er sie eintauschte. Sie würden ihm nicht die Freiheit erkaufen, aber Vorteile – eine Überlebenschance. Mehr nicht. Es lag nun in seiner Hand.
    Bislang hatte er Auschwitz überstanden, aber keiner von uns wusste, wie es weiterging. Der Gestank aus den Schornsteinen und die Leichen, die am Ende jedes Arbeitstages weggeschafft werden mussten, waren Vorzeichen genug. In dieser Welt war jedes Leben willkürlicher Mordlust unterworfen.
    Ich hatte einen Blick hinter den Stacheldraht von Auschwitz-Monowitz werfen können, aber Ernst kannte diese Welt und wusste, wie man darin überlebte, doch ich machte mir nichts vor: Es war trotzdem unwahrscheinlich, dass er überlebte. Ich versuchte vor ihm zu verbergen, was ich dachte, und in den Wochen darauf spielte ich ihm nach und nach den Rest der Zigaretten zu. Was er damit anstellte, hat er mir nie verraten.
    Ich wusste von seiner Schwester in England, aber sonst war mir nichts über seine Familie bekannt. Eltern oder Großeltern erwähnte er nie; er schien mir ungebunden zu sein. So überlebte man leichter, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Dieses Prinzip hätte während meiner Zeit in der Wüste Gültigkeit gehabt und auch, als das Schiff torpediert worden war. In der Gefangenschaft galt es ebenso. Es war einfacher, sich auf das Hauptziel zu konzentrieren: Überleben. Es bündelte die Gedanken. Wie ich schon sagte, ohne sein wichtigstes Ziel hat man nichts. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mich in jenen Jahren mit so wenigen Menschen anfreundete.
    Ernst war anders als die anderen jüdischen Häftlinge. Trotz der Verzweiflung in seinen Augen sah man Spuren des schelmischen Jungen, der er gewesen war, und Hinweise, was für ein Mann er werden konnte, falls es ihm vergönnt war, lange genug zu leben. Ich glaubte, so etwas wie eine Geistesverwandtschaft zwischen ihm und mir entdeckt zu haben. Ich hielt stets nach ihm Ausschau und steckte ihm Zigaretten zu, wann immer ich konnte. Hätte der Krieg noch länger gedauert, hätten wir bestimmt versucht, ein weiteres Paket zu bekommen.
    Ich wünschte mir sehnlichst, von diesem gottverlassenen Ort verschwinden zu können, und sei es nur für wenige Stunden. Als ich die Gelegenheit bekam, mich einem Arbeitskommando anzuschließen, das außerhalb der Buna-Werke eingesetzt werden sollte, griff ich sofort zu. Jede

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