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Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
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Chance, Zivilisten zu kontaktieren, musste man nutzen. Uns wurde befohlen, mit der Eisenbahn nach Kattowitz zu fahren, Material aufzuladen und zurückzukommen. Man sagte uns nicht, was wir zu befördern hatten oder weshalb sechs Leute dazu erforderlich waren. Wir wurden von bewaffneten Wärtern aus dem Lager geführt und erreichten nach kurzem Marsch eine Bahnstation mit niedrigen Bahnsteigen, von denen man auf einen offenen Verschiebebahnhof blickte.
    Von dort, wo ich stand, konnte ich über die Gleise blicken. Weiter hinten waren gerade mehrere Viehwagen voller Häftlinge angekommen. Sie hatten ungefähr hundert Meter von uns in langen Kolonnen Aufstellung genommen. Die Frauen waren von den Männern getrennt worden, und alle trugen noch Zivilkleidung. Wir wussten, was wir sahen. Wir wussten, was mit den Frauen und Kindern geschehen würde.
    Eine der Frauen hielt einen weinenden Säugling in den Armen. Ein SS -Mann schritt die Reihe auf und ab. Er blieb stehen und herrschte die Frau an; dann ging er weiter. Das Baby hörte nicht auf zu weinen. Der SS -Mann ging noch ein paar Schritte. Dann drehte er sich um, stapfte zu der Frau zurück und schlug dem Baby mit aller Kraft die Faust ins Gesicht. Sofort war es still.
    Ich erbrach mich beinahe vor Entsetzen und unterdrückter Wut. Selbst aus der Entfernung war klar, dass der Mann den Säugling totgeschlagen hatte. Die grausige Szene löschte alle Freude aus, dem Gefangenenlager einen Tag lang zu entkommen. Unser Zug kam, und wir stiegen ein. Ich konnte nicht sprechen. Wir waren es gewöhnt, Grausamkeiten gegenüber Erwachsenen mitzuerleben, aber dass ein Kind in den Armen seiner Mutter ermordet wurde, war unfassbar.
    Wir erreichten ein von der Wehrmacht betriebenes Lagerhaus auf einem großen Geländestück in der Nähe von Kattowitz. Dort wurde uns befohlen, einen Eisenbahnwaggon zu beladen. Der größte Teil der Ladung bestand aus Decken, die zu Säcken zusammengenäht waren. Ich konnte nicht sagen, was darin war; vielleicht Brot. Ich habe es nie herausgefunden. Nach dem Vorfall, den ich beobachtet hatte, war es mir auch herzlich gleichgültig.
    In einem normalen zivilen Personenwaggon mit Posten im Korridor, die uns an der Flucht hindern sollten, fuhren wir zurück. Während ich aus dem Fenster starrte, lief vor meinem inneren Auge immer wieder die Szene ab, wie der Säugling totgeschlagen wurde. Bereits jetzt begann ich, solche Dinge von mir wegzuschieben. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Ich hatte nie einen Bogen um Gefahren gemacht, war nie einem Kampf ausgewichen; das lag an meiner Erziehung. Jetzt aber tat ich ständig Dinge, die mir gegen den Strich gingen.
     

     
    Seit ich mit Hans den Platz getauscht hatte, kannte ich wenigstens einige Namen und besaß ein paar Informationen. Ich hatte nun eine bessere Vorstellung davon, was im Konzentrationslager vor sich ging; aber ich hatte eigentlich damit gerechnet, mehr zu erfahren. Ich war enttäuscht. Zwar fanden Selektionen in Auschwitz III statt, doch das mechanisierte Morden spielte sich woanders ab. Nach wie vor wusste ich sehr vieles nicht.
    Wochen verstrichen, und der Winter kam. Es wurde kalt. Der alliierte Sieg schien näher zu rücken, aber nur langsam. Ich konnte noch immer nicht sagen, wie diese entsetzliche Geschichte enden würde. Wer würde überleben? Wer würde von den Konzentrationslagern erzählen können? Wer würde bezeugen können, was geschehen war?
    Im Laufe der Monate beherrschte mich immer stärker der Gedanke, es noch einmal zu versuchen. Hans lebte noch. Wie durch ein Wunder waren auch seine beiden Bettnachbarn durchgekommen. Ich schlug vor, dass wir noch einmal die Rollen tauschten, und er war einverstanden. Sein Los hatte sich nicht verbessert, und das Risiko war es wert. Wieder begannen wir zu planen. Diesmal sollte der Kleidertausch nicht in der »Bude« stattfinden – die Hütte, die wir beim ersten Mal benutzt hatten –, sondern in einem »Bau«, einem Ziegelgebäude, das gerade errichtet wurde.
    Gleich hinter dem Haupteingang befand sich ein winziger Raum, in dem wir uns manchmal heimlich ausruhten. Wir beschlossen, dort die Kleidung zu tauschen. In dem Raum gab es Ecken und Winkel, in denen man Dinge vor dem Tausch verstecken konnte; deshalb erschien er uns geeigneter als die Bude.
    Als der verabredete Tag kam, fühlte ich mich besser vorbereitet als beim ersten Mal. Ich wusste, wohin der Zug der Häftlinge ging und wo die Schwierigkeiten lagen. Trotzdem würde ich wieder

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