Der Mann, der ins KZ einbrach
zusammen und teilten uns in zwei Kolonnen. Später behaupteten einige, dass Mieser, der deutsche Unteroffizier, uns vor die Wahl gestellt habe, entweder auf eigene Faust nach Osten zur russischen Front zu gehen oder in der Kolonne nach Westen zu marschieren. Ich habe eine andere Erinnerung: Wir wurden noch immer mit vorgehaltener Waffe bedroht. In Uniformen, die die Russen nicht kannten, auf deren Linien zuzugehen, wäre ohnehin Selbstmord gewesen. Jahre später hörte ich, dass zwei von uns das Risiko auf sich genommen hatten und von Soldaten der Roten Armee getötet worden waren.
Unsere Kolonne rückte als Letzte ab. Wir wurden durch die Tore geführt, wo die Stacheldrahtrollen kreuz und quer über die Pfosten gezogen waren, und ließen zum letzten Mal E715, oder was davon übrig war, hinter uns.
16. Kapitel
I n der bitteren Kälte und Dunkelheit führte man uns ein kurzes Stück am Zaun der IG -Farben-Baustelle entlang, und ich spuckte zum Abschied in Richtung der teuflischen Türme und Schornsteine, der Stahlgitterbrücken, der Gasometer und der kilometerlangen Rohrleitungen. Dann wandten wir uns nach Südwesten, zogen an Oświęcim vorbei und ließen die Hügel aus gefrorener Erde und Elend hinter uns zurück, um nie wiederzukehren.
Niemand sagte uns, wohin es ging. Ich habe keine Erinnerung daran, den Ort durchquert zu haben, in dem so viele zivile Angestellte der Konzentrationslager gewohnt hatten. Ich dachte an die KZ -Häftlinge, an Ernst, dessen Schwester in England vielleicht zu hoffen gewagt hatte, dass er überlebte, und an Hans, von dem ich noch immer nicht viel wusste. Noch viele andere hatte ich gekannt, aber sie waren Gesichter ohne Namen.
Wir waren noch nicht sehr weit gekommen, als ich ein Lumpenbündel auf der Straße entdeckte, auf dem sich bereits Schnee sammelte. Als wir näher kamen, erkannte ich die Lumpen als gestreiften Drillich, der nun weiß bestäubt und steif gefroren war. Dann sah ich den Nächsten, und dann noch mehr. Es war unverkennbar, um was es sich handelte: Wir umgingen die erstarrten Leichen, ohne anzuhalten. Einige waren in den Kopf geschossen und in die Straßengräben geworfen worden; andere lagen dort auf dem Weg, wo sie zusammengebrochen und ermordet worden waren. Das bisschen Wärme, das noch in ihren knochigen Leibern gewesen war, war längst verflogen. Die Schusswunden erzählten nur die halbe Geschichte.
Ich hätte wissen müssen, dass es so schnell nicht vorbei sein würde und dass es noch mehr zu bezeugen gab. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher, wer überleben würde, um der Welt von Auschwitz zu berichten. Wochenlang hatte ich darüber nachgedacht, wie es wohl enden würde. Jetzt wusste ich es. Die Deutschen hatten die Juden abmarschieren lassen, weil sie glaubten, noch ein klein wenig Arbeitskraft aus ihnen herauspressen zu können. Doch wenn ein Häftling zusammenbrach, war das sein Todesurteil. Es sah nicht so aus, als hätten viele es geschafft.
Ihre Leichen waren dort liegen geblieben, wo sie gestürzt waren, und im Frost erstarrt. Sie hatten den Marsch ausgehungert und erschöpft angetreten, und viele waren Opfer der Strapazen und der Kälte geworden. Einige waren zusammengebrochen und nicht mehr aufgestanden.
Der Tod beginne mit den Schuhen, schrieb Primo Levi später über seine Zeit in Auschwitz III . Das galt für das Konzentrationslager, wo die primitiven Holzpantinen die Füße anschwellen und eitern ließen, die Menschen langsamer machten und ihnen allmählichen Verfall, Prügel und Tod einbrachten, aber es galt auch hier draußen im Schnee.
Später erfuhr ich, dass Levi zu denen gehörte, die zu krank gewesen waren, um Auschwitz III zu verlassen. Auf diese Weise entging er dem Todesmarsch und überlebte.
Tagelang stiegen wir über steif gefrorene Leichen hinweg. Angesichts der vielen Toten wusste ich damals schon, dass es nur wenige Überlebende geben würde. Bestimmt waren auch Ernst, Hans und die anderen tot. Falls ich jemals nach England zurückkam, würde ich Ernsts Schwester Susanne suchen, und wenn ich sie fand, wollte ich ihr erzählen, was ich gesehen hatte. Doch im Moment schienen solche Überlegungen wenig Sinn zu machen. Vorerst verdrängte ich Ernst und Hans und alle anderen aus meinen Gedanken; sie waren tot, und damit hatte es sich. Jetzt musste ich überleben. Wie bereits gesagt: Ohne sein wichtigstes Ziel hat man gar nichts.
Unsere Wächter gehörten der Wehrmacht an, nicht der SS . Trotzdem hegten wir tiefes
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