Der Mann, der ins KZ einbrach
Misstrauen und konnten nicht sicher sein, was sie mit uns vorhatten. Ich erinnere mich besonders an einen Soldaten, einen Veteranen von der Ostfront. Er hatte gegen die Russen gekämpft und zum Andenken eine falsche Hand aus Leder bekommen. Er hatte jeden Grund, nach Westen zu wollen. Ich konnte einfach nicht widerstehen: Nachdem wir kilometerweit über Leichen hinweggestiegen waren, trat ich neben ihn und sagte ihm im besten Deutsch, das ich zustande brachte, ins Gesicht: »Ihre Zeit kommt noch.« Er erstarrte. Er wusste, was ich meinte. Dann erwiderte er: »Aber vorher knall ich dich ab.« Und das hätte er wahrscheinlich auch getan. Angst ist Angst, und die Deutschen hatten den Finger am Abzug.
Nach einiger Zeit sahen wir keine Leichen mehr. Aber die Morde hatten nicht etwa aufgehört; wir waren nur auf einer anderen Straße.
Nahrung war Mangelware, und die meisten von uns mussten Kohldampf schieben. Ein paar Nächte verbrachten wir unter Bewachung in Scheunen. In anderen Nächten blieb uns keine Wahl, als im Freien zu übernachten. Ich war erschöpft, doch ohne wärmenden Mantel hätte es den Tod bedeutet, unter freiem Himmel zu schlafen; deshalb kämpfte ich darum, wach zu bleiben.
Nach ein paar Tagen sahen wir Berge vor uns, und das Gelände stieg an. Je höher wir kamen, desto tiefer fiel die Temperatur. Uns wurde gesagt, wir hätten fast dreißig Grad unter Null. Der Schnee scheuerte mir im Gesicht, und das Eis verklumpte an meinen Ohren. Es war ein langsamer, qualvoller Aufstieg. Ich verlor das Gefühl in den Füßen und bekam Erfrierungen. Später hörte ich von Kameraden, die sich die Stiefel ausgezogen hatten, wobei Teile ihrer Zehen darin zurückblieben.
Wir kamen immer höher, bis das Gelände wieder eben wurde, um dann lang und gewunden zum Tal abzufallen. Es schneite nicht mehr, und die Schneewehen neben uns wurden flacher. Hin und wieder schaute Grün durch den Schnee. Je weiter wir uns vorkämpften, desto dünner wurde die weiße Decke, bis sie schließlich verschwand.
Nach vielen Stunden wurde Halt auf einem Feld an einem Fluss befohlen, der Hochwasser führte. Dann brach die Sonne durch die Wolken, und das Wasser war augenblicklich voller Energie und funkelte mit tausend Stecknadelköpfen aus reflektiertem Licht. Es war frisch, rein und verlockend, und ich musste daran denken, dass es mich von allem Schmutz, körperlichen Leid und inneren Qualen befreien würde. Das Schmelzwasser von den eisigen Berggipfeln war gefährlich kalt, aber seine Schönheit entwaffnete mich. Wenn ich mich hineinstürzte, wäre all mein Leid überstanden. Es war ein Augenblick der Selbstaufgabe, der einherging mit tiefer innerer Ruhe, und ich brauchte meine ganze Kraft, um dem Verlangen zu widerstehen.
Jeden Tag marschierten wir um die dreißig Kilometer, und bald wurde es wieder kälter. Normalerweise waren wir in offenem Gelände, standen aber ständig unter Bewachung, sodass eine Flucht ausgeschlossen war. Wohin sollten wir auch fliehen? Wie sollten wir in der Winterlandschaft zu essen finden?
Die Versorgung war ohnehin katastrophal. Einmal erlaubte ein Wächter mir, während einer Rast meine Uhr bei einem Zivilisten gegen Brot einzutauschen. Es ging nicht anders; aber ich verübelte dem Wächter, dass er seinen Anteil von dem Brot nahm.
Wenn wir Halt machten, bauten die Soldaten ihre Maschinengewehre auf Dreibeinen auf. Das machte uns jedes Mal unruhig. Wir wussten nie, was sie im Schilde führten. Nach allem, was wir in Auschwitz beobachtet hatten, rechneten wir mit dem Schlimmsten. Nach einiger Zeit aber fiel uns auf, dass die Läufe der MG s nicht auf unsere kleine Kolonne gerichtet waren, und die Spannung fiel ein wenig von uns ab. In der Gegend gab es Partisanen, und unsere Bewacher rechneten mit einem Überfall.
Die deutschen Soldaten hatten ein Fahrzeug, auf dem ihr Marschgepäck, einige der schwereren Waffen und die Vorräte transportiert wurden, mit denen sie uns verpflegten. Als das Fahrzeug liegen blieb, gaben sie es auf, requirierten eine Pferdefuhrwerk und luden alles auf den Karren um. Das Pferd war schon von Anfang an geschafft. Bald prügelten sie es gnadenlos. Ich hatte in Auschwitz zahllose Morde mit ansehen müssen und war auf dem Marsch schon über zahllose Leichen gestiegen, aber das Leid des Pferdes berührte mich. So wie sie es peitschten, würde es nicht lange leben. Für mich gibt es nichts Niederträchtigeres, als ein hilfloses Tier zu quälen. Menschen können rebellieren, Tiere
Weitere Kostenlose Bücher