Der Mann, der kein Mörder war
zu der Tür um, aus der er gerade gekommen ist, als ihn eine Hand zurückhält. Ein Mann, den Roger nicht kennt, taucht im Türrahmen auf, beugt sich vor und küsst Groth auf den Mund. Zunächst scheint er kurz zu protestieren, doch als Roger sich in den Schutz des Schattens zurückzieht, beobachtet er, wie der Direktor nachgibt und den Kuss erwidert. Danach wird die Zimmertür wieder geschlossen, und Ragnar Groth sieht sich wachsam um.
«Wenn Roger tatsächlich jemanden im Motel besuchen wollte, ändert er spätestens zu diesem Zeitpunkt seine Pläne.»
Vanja sah Sebastian an, der von seinem Stuhl aufstand und im Raum auf und ab ging, während er das Wort ergriff.
«Roger schleicht sich auf den Parkplatz …»
… und als Ragnar bei seinem Auto ankommt, steht Roger dort und fängt ihn ab, mit einem arroganten Lächeln auf den Lippen. Er konfrontiert den Direktor mit dem, was er gerade beobachtet hat. Ragnar streitet es ab, aber Roger bleibt dabei. Wenn nichts passiert wäre, würde es ihm also auch nichts ausmachen, wenn er es weitererzähle? Roger sieht, wie sein Gegenüber fieberhaft nach einer Lösung sucht, und genießt diesen Anblick. Nach seinem Zusammenstoß mit Leo ist es ein gutes Gefühl, nun selbst Macht zu haben. Zu sehen, wie Ragnar schwitzt, wie ausnahmsweise mal ein anderer leidet. Der Überlegene zu sein. Roger erklärt ihm, dass er natürlich über die kleinen amourösen Abenteuer des Rektors schweigen könne, aber dass dies für Ragnar nicht billig werden würde. Er verlangt Schweigegeld, viel Geld. Groth weigert sich. Roger zuckt mit den Schultern – dann werde es in einer Viertelstunde auf Facebook zu lesen sein. Ragnar begreift, dass er kurz davor ist, alles zu verlieren. Roger dreht sich um und will gehen. Der Parkplatz ist leer und schlecht beleuchtet. Als Roger ihm den Rücken zuwendet, hat er unterschätzt, wie viel der Rektor zu verteidigen hat. Ragnar schlägt zu, und Roger sinkt zu Boden.
«Es hat lange nicht geregnet. Wir sollten zum Parkplatz vor dem Motel fahren und nachsehen, ob dort Spuren zu finden sind.»
Ursula nickte und machte sich eine Notiz auf dem Block, der vor ihr lag. Zwar hatte es abgesehen von einzelnen Schauern tatsächlich nicht geregnet, seit sie Roger gefunden hatten. Aber zu glauben, dass auf einem vielfrequentierten Parkplatz DNA -Spuren zu finden waren, nachdem dort vor einer guten Woche möglicherweise ein Mord stattgefunden hatte – das reichte an die Grenzen ihres Optimismus. Aber sie würde dennoch vorbeifahren. Vielleicht hatten der Junge oder der Direktor dort doch etwas zurückgelassen …
Sebastian blickte Vanja an, die einen schnellen Blick in ihre Papiere warf, bevor sie erneut das Wort ergriff. Torkel schwieg. Nicht nur, weil die Hypothese, die vor ihm ausgebreitet wurde, tatsächlich stimmig wirkte, sondern auch, weil Sebastian Vanja einen Teil der Schlussfolgerung überließ. Normalerweise durfte nur Sebastian selbst im Glanz seiner eigenen Sonne erstrahlen. Er teilte nicht gern. Vanja musste irgendetwas richtig gemacht haben.
«Mit einer gewissen Anstrengung hievt Ragnar Roger ins Auto …»
Er hat nicht vorgehabt, den Jungen zu verletzen, aber ihn auch nicht einfach gehen lassen können. Er durfte nichts weitererzählen, nicht alles zerstören. Sie mussten eine Lösung finden, die für beide akzeptabel war. Auf eine erwachsene und vernünftige Weise darüber sprechen. Ragnar fährt ziellos umher, in immer menschenverlassenere Gegenden, schwitzend und nervös, mit dem bewusstlosen Jungen neben sich. Er grübelt, wie er wieder aus dieser Sache herauskommen und was er seinem Schüler sagen soll, wenn dieser wieder zu sich kommt. Als Roger das Bewusstsein wiedererlangt, versucht Ragnar, die albtraumhafte Situation in den Griff zu kriegen. Doch er kommt gar nicht erst dazu, seine beruhigende und vernünftige Rede zu halten. Roger wirft sich auf ihn und verpasst ihm einen Schlag nach dem anderen. Ragnar ist gezwungen, zu bremsen. Das Auto schlingert und kommt am Straßenrand zum Stehen, und Ragnars Versuch, den Jungen zu beruhigen, misslingt. Nicht genug damit, dass die ganze Welt erfahren soll, dass er es mit Männern treibt. Roger brüllt, er werde ihn verdammt nochmal auch wegen Körperverletzung und Kidnapping anzeigen. Ragnar kann nicht schnell genug reagieren, schon hat Roger die Tür geöffnet und ist hinausgetaumelt. Wütend geht der Junge den schlecht beleuchteten Weg entlang und versucht sich zu orientieren. Wo ist er? Wo hat
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