Der Mann, der kein Mörder war
dieser Wahnsinnige ihn hingefahren? Das Adrenalin pumpt in seinen Adern, sodass Roger nicht spürt, wie sehr er sich eigentlich fürchtet. Vor ihm werfen die Scheinwerfer des Autos lange Schatten. Ragnar steigt aus dem Auto, ruft ihm nach, erhält aber nur einen ausgestreckten Mittelfinger zur Antwort. Ragnar wird immer verzweifelter. Er sieht sein Leben zusammenstürzen wie ein Kartenhaus. Er muss den Jungen aufhalten. Er denkt nicht nach, sondern handelt instinktiv. Rennt um das Auto herum, öffnet den Kofferraum und holt sein Trainingsgewehr heraus. Legt es schnell und geübt an, nimmt den flüchtenden Jungen ins Visier und drückt ab. Roger sackt zusammen.
Es vergeht keine Sekunde, bis Ragnar begreift, was er getan hat. Schockiert sieht er sich um. Niemand kommt, niemand ist in der Nähe. Niemand, der etwas gehört oder gesehen hat. Also gibt es noch immer die Möglichkeit, aus der Sache rauszukommen. Zu überleben.
Ragnar stürzt zu dem Jungen und realisiert zwei Dinge, als er im Licht der Scheinwerfer sieht, wie das Blut aus dem Einschussloch im Rücken pulsiert:
Der Junge ist tot.
Die Kugel kommt einem Fingerabdruck gleich.
Er packt Roger und schleift ihn von der Straße ins Gebüsch. Er holt ein Messer aus dem Auto. Stellt sich breitbeinig über den Jungen und entblößt das Einschussloch. Ohne wirklich zu denken, wie ferngesteuert, schneidet Ragnar das Herz heraus – und die Kugel. Fast verwundert sieht er auf das kleine, blutige Metallstück herab, das einen so großen Schaden angerichtet hat. Dann erst nimmt er den Körper wahr, über den er sich beugt. Zwar ist die Kugel nun weg, aber es ist noch immer deutlich, dass es sich um eine Schussverletzung handelt. Am besten wäre es wohl, wenn er den Mord wie eine Messerattacke aussehen lassen könnte. Sein Überlebensinstinkt hat nun vollkommen die Übermacht gewonnen, und Ragnar beginnt, wie wahnsinnig mit dem Messer auf Roger einzustechen.
«Anschließend hievt er Rogers Leiche ins Auto und fährt nach Listakärr, versenkt sie dort. Den Rest der Geschichte kennen wir …»
Sebastian und Vanja hatten ihren Vortrag beendet. Es war die lebendige Schilderung eines möglichen Tatverlaufs gewesen. Zweifellos mit Gedanken und Gefühlen ausgeschmückt, von denen man unmöglich sagen konnte, ob Täter und Opfer sie wirklich gehabt hatten, aber davon abgesehen war es eine Beschreibung, die in Torkels Ohren wahrscheinlich klang. Er sah sein Team an, nahm seine Brille ab und klappte die Bügel ein.
«Dann sollten wir wohl mal mit Ragnar Groth sprechen.»
«Nein, nein, nein, so ist es keinesfalls gewesen!»
Ragnar Groth schüttelte den Kopf, beugte sich auf dem Stuhl vor und machte mit seinen wohlgepflegten Händen eine abwehrende Geste. Die Bewegung wehte einen schwachen Duft von Hugo Boss in Vanjas Richtung. Dasselbe Aftershave, das auch Jonathan getragen hat, dachte Vanja flüchtig, vermutlich war es das Einzige, was die beiden Männer gemein hatten. Sie hatte soeben ihre Theorie über die Mordnacht präsentiert. Dass Ragnar Groth Roger vor dem Motel getroffen haben und es zu einer Auseinandersetzung gekommen sein könnte.
«Wie ist es dann abgelaufen?»
«Gar nichts ist gewesen! Ich habe Roger an dem besagten Freitagabend nicht getroffen, das habe ich doch bereits gesagt.»
Das hatte er in der Tat. Schon vor gut einer Stunde, als sie ihn in der Schule abgeholt hatten. Er hatte müde und gereizt ausgesehen, als Vanja und Billy in seinem Büro aufgetaucht waren, um ihn mit aufs Präsidium zu nehmen. Die Müdigkeit war in der Sekunde verflogen, als sie ihr Anliegen vorbrachten, und wich einem beleidigten Unverständnis. Sie glaubten doch wohl nicht ernsthaft, dass er in diesen tragischen Vorfall verwickelt sei? Doch, das taten sie. Groth erkundigte sich, ob er nun festgenommen oder verhaftet sei, oder wie auch immer es heißen mochte, doch Vanja versicherte ihm, dass es lediglich um ein Gespräch gehe. Daraufhin wollte Groth, dass sie sich wie die beiden Male zuvor in seinem Büro unterhielten, aber Vanja bestand darauf, dass die Unterredung diesmal im Präsidium stattfand. Es dauerte eine ganze Weile, bis Groth alle Formalitäten geklärt hatte, um für einige Zeit das Büro zu verlassen. Der Rektor legte großen Wert darauf, dass es nicht wie eine Verhaftung aussah. Vanja beruhigte ihn, sie gingen ohne Handschellen und uniformierte Polizisten, und er würde auf dem Beifahrersitz eines Zivilfahrzeugs sitzen. Beim Hinausgehen begegneten sie einem
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