Der Mann, der kein Mörder war
Groths Rendezvous im Motel hatte neue Puzzleteile geliefert, die allem Anschein nach ausgezeichnet zusammenpassten.
«Der Rektor einer Privatschule mit einem christlichen Menschenbild und Wertesystem ist also homosexuell.» Torkel sah seine Mitarbeiter an. In ihren Blicken konnte er erkennen, dass die Gruppe neue Energie gewonnen hatte. «Der Gedanke, dass Groth weit zu gehen bereit war, um das zu verbergen, scheint keineswegs abwegig.»
«Aber wenn man jemanden umbringt, geht man nicht nur weit, sondern extrem weit», warf Ursula ein.
Torkel fand, dass sie müde aussah. Natürlich war sie den ganzen Tag mit dem Brand beschäftigt gewesen. Dennoch konnte Torkel nicht umhin, zu überlegen, ob sie wohl genauso schlecht geschlafen hatte wie er.
«Dass jemand starb, war ja auch nicht geplant.» Sebastian beugte sich zur Obstschale, griff nach einer Birne und biss herzhaft und geräuschvoll hinein.
«Gehen wir denn nicht davon aus, dass derjenige, der Roger Eriksson ermordete, auch für Peter Westins Tod verantwortlich ist?», fragte Ursula. «Es glaubt doch wohl niemand, dass der zweite Mord auch ein Unfall war?»
«Nein, abrchmpf …» Es war nicht leicht, den Wortbrei zu verstehen, der sich in der halbgekauten Birne verlor. Sebastian nahm sich einige Sekunden Zeit, kaute zu Ende und schluckte. Dann begann er von vorn.
«Ich bleibe dabei, dass der Mord an Roger nicht geplant war. Allerdings haben wir es bei dem Täter mit einem Menschen zu tun, der sehr bewusst und systematisch alles dafür tut, ungeschoren davonzukommen.»
«Also könnte der Mord an Roger ein Versehen gewesen sein, aber der Mörder ist bereit, vorsätzlich zu töten, damit niemand erfährt, dass er es war?»
«Ja.»
«Wie kann er das miteinander vereinbaren?», fragte sich Billy. «In seinem Kopf, meine ich.»
«Vermutlich hält er sich selbst für sehr wichtig. Nicht unbedingt aus egoistischen Gründen. Er könnte glauben, dass eine oder mehrere Personen seinetwegen Schaden nehmen und leiden könnten, wenn er ins Gefängnis kommt. Möglicherweise hat er eine Arbeit, von der er glaubt, nur er könne sie ausführen, oder verfolgt eine Aufgabe, die er zu Ende bringen muss. Um jeden Preis.»
«Erfüllt der Direktor der Palmlövska-Schule diese Kriterien?», fragte Vanja.
Sebastian zuckte mit den Schultern. Aufgrund seiner zwei kurzen Begegnungen mit Ragnar Groth konnte er ihn weder hundertprozentig zuordnen noch freisprechen. Immerhin hatte sein Engagement für die Schule ihn schon einmal davon abgehalten, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. War er bereit, noch weiter zu gehen? Mit Sicherheit. Grenzenlos weit? Das musste sich zeigen. Sebastian ließ es offen.
«Es könnte sein.»
«Wissen wir denn, ob Ragnar Groth bekannt war, dass Roger zu Westin ging?», fragte Ursula, die sich natürlich in die Westin-Spur verbissen hatte.
«Das muss so gewesen sein.» Billys Blick heischte nach Zustimmung. «Westin war doch von der Schule engagiert, also sprach er mit dem Direktor sicherlich darüber, wer seine Dienste in Anspruch nahm. Irgendwie musste er die Sitzungen mit den Schülern ja auch abrechnen.»
«Das werden wir herausfinden.» Torkel unterbrach das Gespräch, bevor sie vor lauter neu gewonnenem Enthusiasmus noch anfingen, Fragen zu beantworten, die sich noch gar nicht stellten. In dieser Ermittlungsphase war der Wunsch nach einem schlüssigen Gesamtbild groß. Aber sie mussten sich jetzt zurücknehmen und genau trennen, was sie wussten, was möglich oder wahrscheinlich war und wovon sie keine Ahnung hatten.
«Sebastian und Vanja haben einen möglichen Tathergang konstruiert. Wir anderen hören jetzt erst einmal zu und konzentrieren uns darauf, die Stellen zu finden, an denen die Fakten oder kriminaltechnischen Beweise nicht passen. In Ordnung?»
Alle nickten. Torkel wandte sich Sebastian zu, der Vanja mit einer Handbewegung bedeutete, dass sie anfangen sollte. Vanja nickte, warf einen Blick in ihre Papiere und setzte an:
«Wir stellen uns Folgendes vor …»
… Roger geht in Richtung des Motels. Nach der Begegnung mit Leo Lundin ist er wütend und verzweifelt. Mit blutigem Gesicht und zornig wegen der Demütigung wischt er sich mit dem Jackenärmel die Tränen aus dem Gesicht. Er biegt in den Hof des Motels ein, um dort jemanden zu treffen, mit dem er verabredet ist. Plötzlich hält er inne. Eine Bewegung aus einem der Motelzimmer lässt ihn stutzen. Er sieht hoch und erblickt den Direktor seiner Schule. Ragnar Groth dreht sich
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