Der Mann, der kein Mörder war
zurückzugeben. Im Gegenteil, am liebsten hatte er so viel Material wie möglich zugänglich, für genau solche Fälle. So war er jedenfalls immer vorgegangen, als er vor langer Zeit noch gearbeitet hatte, und er war froh, dass er sich wenigstens die Gewohnheit, seine Tasche vollzupacken, nicht abgewöhnt hatte. Leider enthielt das Material nicht viel über Roger. Es waren vor allem Unterlagen von seinen zwei Schulen. Sebastian legte sie beiseite, schlug den Block auf, schnappte sich den Stift und begann, ein wenig Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Ganz oben schrieb er:
Schulwechsel
Er riss die Seite heraus und legte sie in die obere Ecke des Tisches. Früher hatte er gern mit Stichworten auf losen Papieren gearbeitet, um auf diese Weise seine Gedanken zum Fließen zu bringen. Es ging darum, ein Gefühl für die Einzelheiten des Gedankengerüsts zu bekommen, um anschließend zu schauen, wie man sie drehen und wenden und darauf aufbauen konnte. Sebastian fuhr fort:
Keine Freunde
Rogers begrenzter Freundeskreis stellte ein Problem für die Polizei dar. Er hatte zu wenige Verbündete, es gab kaum jemanden, der etwas über ihn wusste. Lisa war nur zum Schein seine Freundin gewesen, und sogar Johan, sein Freund aus Kindertagen, hatte sich von ihm losgelöst. Er war ganz einfach ein einsamer Mensch. Und einsame Menschen waren am schwierigsten greifbar.
War in Therapie
Bei dem verstorbenen Peter Westin. Vermutlich, um mit jemandem reden zu können, was wiederum die These stärkte, dass er einsam war. Möglicherweise auch, weil er etwas aufarbeiten oder loswerden musste.
Brauchte Geld
Der Alkoholhandel und die gesamte Axel-Johansson-Fährte hatte sich als Sackgasse erwiesen. Aber Roger schien ein Jugendlicher zu sein, der für Geld eine ganze Menge zu tun bereit war. Geld, das er brauchte, um dazuzugehören, insbesondere an seiner neuen Schule, dem «feinen» Palmlövska-Gymnasium.
Mutter bekam Geld vom Rektor
Das unmoralische Verhältnis zum Geld schien in der Familie zu liegen. Daher wirkte auch die Erpressungshypothese wahrscheinlich. Lena hatte etwas gewusst, für das Ragnar Groth zu zahlen bereit war, damit es nicht herauskam. Es musste etwas mit dem Ruf der Schule zu tun haben, denn dafür lebte er. Roger war das Einzige, was Lena mit Groth verband, soweit Sebastian wusste. Das führte zu:
Schwuler Liebhaber?
Aber das strich er schnell wieder.
Diese These in der Indizienkette hatte ihn am meisten gestört. Denkrichtungen solcher Art wurden zu dominant und konnten die Ermittlungen vollständig beherrschen. Stattdessen kam es darauf an, den Gedanken freien Lauf zu lassen, sich nicht zu beschränken, sondern die Zusammenhänge zu betrachten, ohne sie zu sehr mit Bedeutung aufzuladen. Häufig war die Lösung in den kleinen Details zu finden. Das wusste er, also schrieb er stattdessen:
Heimlicher Geliebter/heimliche Geliebte
Doch auch diese Spur war eigentlich zu schwach. Ein Gefühl, das Vanja von Lisa aufgegriffen und als wichtig eingestuft hatte. Er teilte diese Ahnung, aber sie konnte auch einfach nur durch ihre eigene, subjektive Färbung des Wortes «Geheimnis» ausgelöst worden sein. Etwas, das man verheimlichte, musste mit Sex zu tun haben. Gab es denn mehr als Lisas Gefühl, das darauf hindeutete, dass sie richtigliegen könnten? Doch! Eine Sache gab es tatsächlich. Er schrieb die nächste Überschrift:
«Es ging immer nur um Sex»
Das hatte Johan zu Vanja und ihm gesagt, als sie draußen auf dem Zeltplatz mit ihm sprachen. Vielleicht war es wichtiger, als er zunächst geglaubt hatte. Johan hatte erklärt, dass er deswegen nicht mehr so viel Zeit mit Roger hatte verbringen wollen. Roger schien also ein ausgeprägtes sexuelles Interesse gehabt zu haben, das so stark war, dass es Johan zu anstrengend wurde. Aber mit wem hatte er Sex gehabt? Nicht mit Lisa, aber mit wem dann?
Das letzte Gespräch
Auch das irritierte Sebastian: Rogers letztes Telefongespräch. Als er an diesem Freitagabend versucht hatte, Johan zu Hause zu erreichen, der aber nicht da war. Warum hatte er anschließend nicht auf Johans Handy angerufen? Eine Zeitlang hatten sie mit der These gearbeitet, dass Roger es vielleicht nicht mehr geschafft hatte. Jetzt, wo sie dank der beiden Kameras seinen letzten Weg rekonstruiert hatten, deutete jedoch nichts mehr darauf hin. Im Gegenteil. Roger spazierte nach dem erfolglosen Anruf noch eine ganze Weile durch die
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