Der Mann, der kein Mörder war
er, dass in allem, was geschehen war, etwas Positives lag. Die Briefe und die mit ihnen einhergehenden Möglichkeiten, aber auch der Fall und die Arbeit mit der Reichsmordkommission hatten ihm neue Energie verschafft. Seine Tage waren von etwas anderem ausgefüllt worden als der Mixtur aus Vorwürfen und Angst, die ihn nun schon viel zu lange begleitete. Natürlich waren diese Gefühle nicht einfach verschwunden – der Traum war noch da, jede Nacht, und der Duft von Sabine weckte ihn jeden Morgen. Aber die Intensität des Verlusts lähmte ihn nicht länger vollständig. Er hatte die Möglichkeit eines anderen Daseins verspürt, das ihn zugleich ängstigte und lockte. Es lag eine Sicherheit in dem Leben, das er nun schon so lange kannte. So negativ es für ihn sein mochte – die Routine war auch bequem. Ein Schicksal, das er in gewisser Weise selbst gewählt hatte und das sein innerstes Wesen ansprach: dass er das Glück nicht verdiente, dass ein Fluch auf ihm lastete.
Das wusste er schon von Kindesbeinen an, es war, als hätte der Tsunami es lediglich bestätigt. Er blickte zu Claras Haus hinüber. Sie war auf die Treppe hinausgetreten und starrte ihn an. Er ignorierte sie.
Vielleicht befand er sich dennoch gerade an einem Wendepunkt. Etwas war auf jeden Fall geschehen. Seit der Nacht mit Beatrice war er mit keiner Frau zusammen gewesen, ja, er hatte nicht einmal daran gedacht. Das musste etwas zu bedeuten haben. Er sah auf seine Uhr. 19:20 Uhr. Der Makler sollte längst hier sein. Eigentlich hätten sie sich bereits um sieben treffen und schnell den Vertrag unterschreiben wollen, damit er den Zug um 20:30 Uhr nach Stockholm nehmen konnte. Das war sein Plan gewesen. Warum war der Mann noch nicht hier? Verärgert betrat Sebastian das Haus und machte in der Küche Licht. Dann rief er den Makler an, einen gewissen Peter Nylander, der sich entschuldigte, nachdem er nach mehrmaligem Klingeln dranging. Er sei noch bei einer Hausbesichtigung und könne allerfrühestens morgen Vormittag kommen.
Typisch. Noch eine weitere Nacht in diesem verflixten Haus. So viel also zum Thema lebensentscheidender Wendepunkt.
Torkel hatte das Sakko und die Schuhe ausgezogen und sich todmüde auf das weiche Hotelbett fallen lassen. Für einen kurzen Moment schaltete er den Fernseher ein und sofort wieder aus, als die Bilder von der Pressekonferenz gezeigt wurden. Er hasste es nicht nur, sich selbst zu sehen – etwas an dem ganzen Fall störte ihn. Er versuchte, einen Moment lang die Augen zu schließen, doch es gelang ihm nicht. Seine Unzufriedenheit wollte einfach nicht weichen. Die Indizien waren stark, aber es fehlten die unwiderruflichen technischen Beweise. Etwas, das ihn restlos davon überzeugen konnte, dass sie recht hatten. Am meisten vermisste er Blutspuren. Baufolie hin oder her, Blut war eine Substanz, die ein Täter nur schwer restlos entfernen konnte. Eine organische Flüssigkeit, die so komplex war, dass schon mikroskopisch kleine Mengen davon genügten, um sie nachzuweisen. Und Roger hatte enorm viel Blut verloren.
Dennoch hatten sie keine Blutspuren im Volvo gefunden. Ursula ging es genauso wie ihm, das wusste er. Nach ihrem Treffen hatte sie sich noch einige frustrierende Stunden lang mit dem Auto beschäftigt, aber bislang nichts gefunden. So wie er sie einschätzte, war sie noch immer dort und untersuchte den Wagen. Mit Ragnar Groths Kalender, der im Ofen versteckt gewesen war, hatte sie sich einen zu großen Schnitzer geleistet. Nie im Leben würde sie ihre Arbeit nun beenden, bevor sie nicht alles dreifach überprüft hatte.
Und Hanser? Sie war nicht zu bremsen oder wenigstens ein bisschen zu zügeln gewesen. Obendrein war es ihr gelungen, den Kreispolizeidirektor auf ihre Seite zu ziehen. Torkel und Hanser hatten ihn eine halbe Stunde vor der einberufenen Pressekonferenz getroffen. Torkel hatte sie flehend um etwas Aufschub gebeten, ein Tag mehr oder weniger konnte doch wohl nicht ausschlaggebend sein. Aber er musste schnell einsehen, dass die beiden anderen auf der Stelle den Pokal einheimsen wollten. Als er fieberhaft versuchte, sie zu einer zurückhaltenderen Taktik zu bewegen, kamen sie ihm eher wie Politiker vor als wie Polizisten. Für sie war die Lösung des Falles einfach notwendig, um die Karriere ohne Makel fortzusetzen. Für Torkel hingegen bedeutete die Lösung eines Falles mehr. Sie bestand in der Wahrheit. Die Lösung war das, was dem Opfer zustand, und nichts, das mit seiner Karriere
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