Der Mann, der kein Mörder war
drang es schwach aus dem Zimmer. Sebastian atmete aus. Kontakt. Ein erster, wichtiger Schritt. Jetzt galt es, die nächsten Schritte anzugehen. Er musste in dieses Zimmer hineinkommen.
«Ich möchte mit dir sprechen. Willst du mir das erlauben?»
Keine Antwort.
«Ich glaube, es wäre gut, wenn wir ein bisschen reden würden. Ich bin ja eigentlich gar kein Polizist, weißt du das noch? Ich bin Psychologe.»
In der Stille, die auf seinen Satz folgte, hörte Sebastian, wie sich in der Ferne Sirenen näherten. Er fluchte innerlich. Was zum Teufel veranstalteten die da draußen? Es würde den Jungen nur noch nervöser machen. Sebastian musste in dieses Zimmer hinein, und zwar jetzt.
Er wechselte die Seite und drückte sich links von der Tür an die Wand. Vorsichtig legte er die Hand auf den Türgriff. Er fühlte sich kalt an. Sebastian spürte mit einem Mal, wie sehr er schwitzte. Er fuhr sich mit der anderen Hand über die Stirn.
«Ich möchte nur mit dir reden, sonst nichts. Ich verspreche es.»
Keine Antwort. Die Sirenen kamen immer näher. Jetzt mussten sie auf der Straße sein. Sebastian hob seine Stimme.
«Hörst du mich?»
«Können Sie nicht einfach abhauen?!» Johans Stimme klang eher resigniert als drohend, gedämpft. Weinte er? War er kurz davor, aufzugeben? Sebastian holte noch einmal tief Luft.
«Ich öffne jetzt die Tür.» Er drückte den Türgriff nach unten. Drinnen keine sichtbare Reaktion. Die Tür ging nach außen auf, sodass Sebastian sie zunächst einen zentimetergroßen Spalt öffnete und so stehen ließ.
«Ich werde die Tür jetzt ganz öffnen und dann hereinkommen. Ist das okay?»
Erneut nichts als Schweigen. Er ließ den Zeigefinger in den Spalt gleiten und schob die Tür behutsam weiter auf, während er selbst noch immer im Schutz der Wand stand. Er schloss kurz die Augen, um sich zu konzentrieren.
Dann trat er einen Schritt vor und stellte sich mitten in den Türrahmen, die Hände gut sichtbar.
Johan saß unter dem Fenster auf dem Boden und hielt das Gewehr in den Händen. Er wandte sich Sebastian mit einem Gesichtsausdruck zu, als stellte sein Erscheinen eine komplette Überraschung für ihn dar. Verwirrt, unter Schock. Und daher gefährlich. Sebastian blieb regungslos in der Tür stehen. Er betrachtete Johan voller Wärme. Er sah so klein aus, so verletzlich. Sein Gesicht war blass und feucht vom Schweiß. Unter den Augen, die gerötet waren und eingesunken wirkten, hatte er schwarze Ränder. Möglicherweise vom Schlafmangel. Was auch immer geschehen war, was auch immer Johan getan hatte – es hatte ihn verfolgt. Bis hierher, von wo aus es keinen Weg mehr zurück gab. Das größte Risiko bestand darin, dass der Druck zu groß wurde. Dass die dünne Wand, die ihn noch in der Wirklichkeit hielt, einstürzte. Sebastian konnte sehen, wie angespannt der Junge war. Seine Kiefer arbeiteten unter den bleichen Wangen. Plötzlich schien Johan alles Interesse an Sebastian verloren zu haben und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster und dem Geschehen vor der Haustür zu.
Von seinem Platz im Türrahmen aus konnte Sebastian sehen, wie ein Krankenwagen und zwei weitere Streifenwagen ankamen. Volle Aktivität. Er sah auch, wie Torkel mit einem bewaffneten Mann sprach, der zur hiesigen Spezialeinheit gehören musste. Johan hob sein Gewehr von den Knien und richtete es auf Sebastian.
«Sag ihnen, dass sie von hier verschwinden sollen.»
«Das kann ich nicht.»
«Sie sollen mich einfach nur in Ruhe lassen.»
«Sie werden nicht wieder fahren. Du hast auf einen Polizisten geschossen.»
Johan blinzelte angestrengt, eine Träne lief seine Wange hinunter. Sebastian wagte den Schritt in den Raum hinein. Johan zuckte zusammen und hob das Gewehr, woraufhin Sebastian sofort stehen blieb. Er hielt die Hände in einer abwehrenden und zugleich beruhigenden Geste nach vorne. Johans Blick flackerte unheilverkündend.
«Ich möchte mich einfach nur hier hinsetzen.»
Sebastian ging einen Schritt beiseite und glitt neben der geöffneten Tür mit dem Rücken an der Wand auf den Boden hinunter. Johan ließ ihn nicht aus den Augen, senkte jedoch das Gewehr.
«Willst du mir erzählen, was passiert ist?»
Johan schüttelte den Kopf, drehte sich um und beobachtete von neuem die Aktivitäten auf der Straße.
«Werden sie kommen und mich holen?»
«Nicht, solange ich hier bin.» Vorsichtig streckte Sebastian die Beine vor sich auf dem Boden aus. «Und ich habe alle Zeit der Welt.»
Johan nickte.
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