Der Mann, der kein Mörder war
Sebastian glaubte zu sehen, wie sich die Schultern des Jungen etwas senkten. Entspannte er sich ein wenig? Es hatte den Anschein. Doch Johans Kopf bewegte sich immer noch ruckartig wie der eines kleinen Vogels, wenn er versuchte, alles mitzubekommen, was draußen vor sich ging. Das Gewehr war erneut auf Sebastian gerichtet.
«Wir versuchen, das zu schützen, was wir lieben. Das ist nur natürlich. Und ich habe verstanden, dass du deinen Vater wirklich liebst.»
Noch immer kam keine Reaktion von dem Jungen. Vielleicht konzentrierte er sich so sehr auf das Geschehen vor dem Haus, dass er nichts mehr mitbekam. Oder er hörte einfach nicht zu. Sebastian schwieg. Sie blieben weiterhin sitzen. Durch das geöffnete Fenster hörte Sebastian, wie eine Bahre auf Rollen über den Asphalt geschoben wurde und die Türen des Krankenwagens kurz danach wieder zugeschlagen wurden. Haraldsson wurde versorgt. Gedämpfte Stimmen, Schritte. Ein Auto startete und fuhr los. Der Rasenmäher arbeitete weiterhin irgendwo da draußen, wo das Leben noch immer begreiflich und fassbar war.
«Ich habe auch versucht, die zu beschützen, die ich geliebt habe. Aber es ist mir nicht gelungen.»
Vielleicht lag es an Sebastians Tonfall, vielleicht daran, dass die Aktivitäten draußen größtenteils eingestellt worden waren und keine Aufmerksamkeit mehr erforderten. Jedenfalls wandte sich Johan Sebastian zu.
«Was ist passiert?»
«Sie starben, meine Frau und meine Tochter.»
«Wie?»
«Sie sind ertrunken. Bei dem Tsunami, erinnerst du dich daran?»
Johan nickte. Sebastian ließ ihn nicht aus den Augen.
«Ich würde alles dafür tun, um sie zurückzubekommen, damit wir wieder eine Familie sind.»
Genau wie Sebastian erhofft hatte, schien es, als bewegten seine Worte etwas in dem Jungen. Offenbar konnte er hierzu einen Bezug herstellen. Die Familie, die Lücke, die sie hinterließ, wenn sie nicht länger existierte. Beatrice hatte von Johans Sehnsucht erzählt, die ihn krank gemacht hatte. Die Familie, ein Bild der Perfektion. Sebastian begann zu ahnen, wie weit Johan zu gehen bereit war, damit niemand dieses Bild erschütterte.
Johan schwieg. Sebastian saß in einer unbequemen Position. Vorsichtig hob er seine Knie vom Boden und stützte sich mit den Unterarmen darauf ab. Johan reagierte nicht auf die Bewegung. So saßen sie sich eine Zeitlang schweigend gegenüber.
Johan nagte abwesend an seiner Unterlippe. Er sah aus dem Fenster, doch sein Blick war starr, als ob ihn nichts dort draußen länger interessierte.
«Ich wollte Roger nicht umbringen.»
Sebastian konnte die Worte nur schwer verstehen. Johan sprach leise durch seine zusammengebissenen Zähne. Sebastian schloss kurz die Augen. Das war es also. Er hatte es bereits geahnt, als sich herausstellte, dass Ulf kein Motiv hatte, aber er hatte es nicht glauben wollen. Die Tragödie war ohnehin schon groß genug.
«Ich habe es Lena erzählt, seiner Mutter, damit sie das Ganze beenden würde. Aber nichts ist passiert, es ging einfach weiter.»
«Mit Roger und deiner Mutter?»
Johan starrte weiter durch das Fenster. Den Blick noch immer auf einen Punkt dort draußen gerichtet, fern, irgendwo anders.
«Mama hat sich schon einmal mit jemandem getroffen, davor. Wussten Sie das?»
«Ja. Birger Franzén.»
«Damals ist Papa einfach verschwunden.»
Sebastian wartete, doch es kam nichts mehr. Als ob Johan damit rechnete, dass Sebastian sich den Rest selbst zusammenreimen könnte.
«Du hattest Angst, dass er wieder verschwindet.»
«Und das hätte er garantiert auch getan. Denn diesmal war es ja noch schlimmer.»
Johan klang ganz sicher, und Sebastian konnte ihm nicht widersprechen, selbst, wenn er gewollt hätte. Der Altersunterschied. Die Beziehung zwischen Lehrerin und Schüler. Der beste Freund des Sohnes. Dieser Betrug würde zweifelsohne als noch schwerwiegender aufgefasst werden. Und unverzeihlicher. Insbesondere für einen Mann wie Ulf, der noch nicht einmal damit begonnen hatte, ihr den letzten Fehltritt zu vergeben.
«Wie hast du herausgefunden, dass sie etwas miteinander hatten?»
«Ich habe einmal gesehen, wie sie sich küssten. Und ich wusste, dass er mit jemandem zusammen war. Er sprach viel darüber … was sie taten. Aber ich …»
Johan beendete seinen Satz nicht. Jedenfalls nicht laut. Sebastian sah, wie der Junge den Kopf schüttelte, als ob er den Gedankengang innerlich fortführte, und wartete ab.
Der Prozess war angestoßen. Da Johan sich nun schon so weit
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