Der Mann, der kein Mörder war
dahinter das Gästezimmer gewesen. Selten in Anspruch genommen. Zwar hatten die Eltern einen ziemlich großen Bekanntenkreis, aber die meisten stammten aus dem Ort. Er öffnete die Tür. Eine Wand war mit Bücherregalen bedeckt, und dort, wo früher das Bett gewesen war, stand nun ein Schreibtisch mit einer Schreibmaschine und einer Rechenmaschine mit eingelegter Papierrolle. Sebastian schloss die Tür wieder. Offenbar war das ganze Haus voll mit solchem Schrott. Was sollte er bloß mit all dem Zeug machen?
Er ging in die Küche. Neue Küchenschränke, ein neuer Tisch, aber noch derselbe alte Bodenbelag aus PVC . Sebastian öffnete die Kühlschranktür. Gut gefüllt. Aber alles verdorben. Er nahm eine der Milchtüten aus der Tür. Sie war geöffnet, haltbar bis zum achten März, dem Internationalen Frauentag. Obwohl er wusste, was ihn erwartete, steckte Sebastian seine Nase in die aufgerissene Öffnung. Mit einer Grimasse stellte er die Milch wieder zurück und nahm eine Dose Leichtbier heraus, die neben einer Verpackung von etwas lag, das vermutlich einmal Käse enthalten hatte, nun aber eher einem erfolgreichen Forschungsprojekt aus dem Schimmelzuchtlabor glich.
Während er das Bier öffnete, ging er zurück ins Wohnzimmer. Unterwegs schaltete er die Deckenbeleuchtung ein. Die Lampen waren auf die Decke gerichtet und an einer Leiste befestigt, die über das gesamte Zimmer verlief, sodass es von einem gleichmäßigen und behaglichen Licht erleuchtet wurde. Ein geschmackvolles Detail, das beinahe modern wirkte. Sebastian ertappte sich dabei, gegen seinen Willen beeindruckt zu sein.
Er machte es sich in einem der Sessel bequem und legte die Füße auf den niedrigen Wohnzimmertisch, ohne die Schuhe auszuziehen. Dann nahm er einen Schluck aus der Dose und legte den Kopf in den Nacken. Er nahm die Stille in sich auf. Völlige Stille. Nicht einmal Straßenlärm hörte man hier. Das Haus lag am Ende einer Sackgasse, und die nächste große Straße war einige hundert Meter entfernt. Sebastians Blick fiel auf das Klavier. Er nahm noch einen Schluck, stellte die Dose auf den Tisch, stand auf und ging zu dem schwarzglänzenden Instrument.
Geistesabwesend drückte er eine weiße Taste. Ein stummes, etwas verstimmtes A durchbrach die Stille.
Sebastian hatte als Sechsjähriger mit dem Klavierspielen begonnen. Und aufgehört, als er neun war. Damals hatte seine Klavierlehrerin seinen Vater nach dem Unterricht beiseite genommen, weil sich Sebastian im Prinzip geweigert hatte, mit seinen Fingern die Tasten zu berühren. Sie hatte ihm erklärt, dass es ihre Zeit – und sein Geld – vergeude, einmal in der Woche zu einem Schüler zu kommen, der eindeutig unmotiviert war und sich noch dazu, dessen war sie sich sicher, durch einen völligen Mangel an Musikalität auszeichne. Was nicht stimmte. Sebastian war keineswegs unmusikalisch. Auch hatte er sich nicht geweigert, zu spielen, um gegen seinen Vater zu rebellieren, das kam erst Jahre später. Er hatte es nur unbeschreiblich öde gefunden. Sinnlos. Er konnte sich nicht für etwas engagieren, was er dermaßen uninteressant fand.
Damals nicht. Später nicht. Heute nicht.
Er konnte nahezu grenzenlos Zeit und Energie in Dinge investieren, die ihn interessierten und faszinierten, doch wenn das nicht der Fall war …
Begriffe wie «durchstehen» und «aushalten» existierten einfach nicht in Sebastian Bergmans Vokabular.
Langsam beugte er sich vor und begutachtete die Fotos, die auf dem Klavier standen. In der Mitte das Hochzeitsfoto der Eltern, rechts und links davon zwei Bilder von Sebastians Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits. Dann ein Bild von Sebastian als Abiturient und eins, auf dem er vielleicht acht oder neun Jahre alt war und im Mannschaftstrikot vor einem Fußballtor posierte, mit ernstem, siegessicherem Blick. Daneben ein Foto von seinen Eltern, Seite an Seite vor einem Touristenbus, auf Reisen irgendwo in Europa. Seine Mutter sah auf dem Foto aus, als sei sie etwa fünfundsechzig. Das war also zwanzig Jahre her. Obwohl es eine sehr bewusste Entscheidung gewesen war, überraschte es Sebastian doch, wie wenig er über das Leben wusste, das die Eltern nach seinem Weggang geführt hatten. Er wusste nicht einmal, woran seine Mutter gestorben war.
Dann fiel Sebastians Blick auf ein Foto, das ganz hinten stand. Er nahm es in die Hand. Das dritte Foto von ihm selbst. Er saß auf seinem neuen Moped in der Garageneinfahrt. Seine Mutter hatte dieses Bild sehr
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