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Der Mann, der kein Mörder war

Der Mann, der kein Mörder war

Titel: Der Mann, der kein Mörder war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hjorth , Rosenfeldt
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und die Sozialbehörden griffen ein. Redeten, riefen an, kamen zu Besuch. Schulpsychologen und Sozialamtsmitarbeiter. Seine Mutter weinte, und er, der kleine Junge, verstand plötzlich, was er Gefahr lief zu verlieren. Alles. Weil er Schwäche gezeigt hatte. Nicht die Stärke bewiesen hatte, seinen Mund zu halten. Er wusste, dass sein Papa ihn liebte. Nur gehörte dieser eben zu jener Sorte Mensch, die ihre Liebe durch Disziplin und Ordnung zeigt. Ein Mann, der seine Botschaft lieber mit Fäusten, dem Teppichklopfer oder dem Gürtel vermittelte als mit Worten. Ein Mann, der seinen Jungen mittels Gehorsam auf die Wirklichkeit vorbereitete, in der man gezwungen war, stark zu sein.
    Er hatte die Gefahr gebannt, indem er seine Worte zurückgenommen hatte. Sie geleugnet. Gesagt, dass man ihn missverstanden hätte. Er hatte die Ordnung wiederhergestellt, weil er seinen Vater, seine Familie nicht verlieren wollte. Die Schläge konnte er ertragen, aber nicht den Verlust des Vaters. Sie waren in eine andere Stadt gezogen. Der Vater hatte sein Leugnen und Lügen zu schätzen gewusst. Sie waren einander nähergekommen, das spürte er. Die Schläge wurden nicht weniger, im Gegenteil, doch für den Jungen fühlten sie sich leichter an. Und er schwieg. Wurde stärker. Niemand verstand, welche Gabe sein Vater ihm vermittelt hatte. Nicht einmal er selbst. Doch jetzt erkannte er sie. Die Möglichkeit, das Chaos zu überwinden und zu handeln. Der Mann, der kein Mörder war, lächelte. Er fühlte sich seinem Vater näher denn je.
     
     
    Sebastian war am Morgen um kurz vor vier in einem der schmalen, harten Einzelbetten im Obergeschoss aufgewacht. Der übrigen Einrichtung des Zimmers nach zu urteilen, war es das Bett seiner Mutter. Als Sebastian von zu Hause auszog, hatten seine Eltern noch keine getrennten Schlafzimmer gehabt, aber diese Neuordnung verwunderte ihn nicht. Freiwillig Nacht für Nacht neben seinem Vater ins Bett zu kriechen, konnte man eigentlich nicht als gesundes menschliches Verhalten bezeichnen. Offenbar hatte das auch seine Mutter allmählich erkannt.
    Meistens stand Sebastian sofort auf, wenn er aus dem Traum erwachte, egal, wie viel Uhr es war. Meistens, aber nicht immer. Manchmal blieb er liegen. Schloss die Augen. Spürte, wie sich der Krampf in seiner rechten Hand löste, während er den Traum erneut zuließ.
    Manchmal sehnte er sich nach diesen Morgen. Und fürchtete sie zugleich. Wenn er dem Traum erlaubte, sich erneut festzusetzen, wenn er das reine, unverfälschte Gefühl der Liebe aus ihm heraussog, war seine Rückkehr in die Wirklichkeit anschließend beträchtlich schwieriger und angsterfüllter, als wenn er einfach losließ, aufstand und weitermachte. Das war meistens die bessere Variante. Denn auf die Liebe folgte der Schmerz. Der Verlust, unweigerlich und immerwährend. Es war wie eine Abhängigkeit. Er kannte die Folgen. Er wusste, dass es ihm unmittelbar danach so schlechtgehen würde, dass er kaum noch zurechtkam. Kaum noch zu atmen vermochte, kaum noch zu leben.
    Aber er brauchte diesen wahren Kern hin und wieder. Das stärkere, das echte Gefühl, das seine Erinnerungen ihm nicht mehr geben konnten. Seine Erinnerungen waren trotz allem nur Erinnerungen. Im Vergleich zu seinen Gefühlen wirkten sie blass, fast leblos. Wahrscheinlich waren auch nicht alle von ihnen wirklichkeitsgetreu. Er hatte ausgelassen und hinzugedichtet, mal bewusst, mal unbewusst. Gewisse Dinge hatte er verbessert und verstärkt, andere abgeschwächt oder verdrängt. Erinnerungen waren subjektiv. Sein Traum war objektiv, unerbittlich, unsentimental und unerträglich schmerzhaft. Aber lebendig.
    An diesem Morgen in seinem Elternhaus blieb er im Bett und erlaubte dem Traum, ihn erneut zu umfangen. Er wollte es so, brauchte es. Und es war einfach, der Traum war fest in ihm verankert wie ein unsichtbares Wesen, dem er nur etwas neue Kraft einhauchen musste, und wenn er es tat …
    Dann konnte er sie spüren. Sich nicht nur an sie erinnern, sondern sie wirklich spüren. Er spürte ihre kleine Hand in seiner und hörte ihre Stimme. Er hörte auch andere Stimmen und andere Geräusche, ihre jedoch am deutlichsten. Er konnte sie sogar riechen. Kinderseife und Sonnencreme. Im Halbschlaf war sie bei ihm. Real. Wieder da. Sein großer Daumen strich unbewusst über den billigen kleinen Ring, den sie am Zeigefinger trug. Einen Schmetterling. Er hatte ihn zwischen billigem Krimskrams auf einem Ramschmarkt entdeckt und gekauft. Sie hatte

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