Der Mann, der kein Mörder war
Die Musik lief mit hoher Lautstärke weiter. Womöglich sogar noch lauter als zuvor, überlegte Vanja. Oder kam es ihr nur so vor, weil sie direkt vor der Zimmertür standen? Billy klopfte an. Energisch.
«Leo, können wir kurz mit dir sprechen?» Keine Reaktion. Billy klopfte erneut.
«Komisch, es klang, als hätte er abgeschlossen.»
Vanja und Billy sahen Clara an. Billy drückte den Türgriff nach unten. Tatsächlich. Abgeschlossen.
Vanja warf einen schnellen Blick durch das Wohnzimmerfenster. Plötzlich sah sie, wie ein stattlicher rothaariger Junge weich auf dem Gras vor dem Haus landete und anschließend auf Socken über den Rasen aus ihrem Blickfeld sprintete. Das Ganze ging blitzschnell. Vanja rannte zur verschlossenen Terrassentür und schrie:
«Leo! Bleib stehen!»
Was Leo auf keinen Fall zu tun gedachte. Im Gegenteil, er wurde immer schneller. Vanja drehte sich zum verdutzten Billy um.
«Übernimm du die Vorderseite», rief sie, während sie versuchte, die Terrassentür zu öffnen. In einiger Entfernung sah sie den flüchtenden Jungen. Sie bekam die Tür auf und setzte mit ein paar schnellen Schritten über die Rabatten. Dann erhöhte sie ihr Tempo und schrie dem Jungen erneut hinterher.
Sebastian war gegen acht aus dem Bett gekommen, hatte geduscht und einen Ausflug zur Statoil-Tankstelle unternommen, die nur wenige hundert Meter entfernt lag. Er bestellte einen Caffè Latte und ein Frühstück, das er an Ort und Stelle verspeiste, während er die Morgenpendler beobachtete, die sich mit Zigaretten, Kaffee und Super-Bleifrei versorgten. Als er zu seinem temporären Wohnsitz zurückgekehrt war, sammelte er die Zeitungen, Briefe, Rechnungen und Reklame aus dem überfüllten Briefkasten zusammen. Bis auf die Zeitung von heute warf er alles in einen Pappkarton, den er sorgfältig zusammengefaltet in der Besenkammer gefunden hatte. Er hoffte, dass dieser Makler bald zurückrufen würde, damit er das Tankstellenessen nicht zur Gewohnheit machen musste. Gelangweilt ging er nach draußen und setzte sich hinter das Haus, wo die Sonnenstrahlen bereits die neue Holzterrasse aufwärmten. Als Sebastian klein war, hatten dort Steinplatten gelegen, diese Fliesen aus lauter runden, hervorstehenden Steinchen, die damals alle hatten, wenn er sich recht erinnerte. Heute besaßen stattdessen offenbar alle Holzterrassen.
Er nahm die Zeitung und wollte gerade mit dem Kulturteil beginnen, als er hörte, wie eine energische Frauenstimme rief: «Leo! Bleib stehen!» Nur wenige Sekunden später brach ein großgewachsener, rothaariger Jugendlicher durch die Tujahecke des Nachbarn, rannte über den schmalen Fuß- und Radweg, der die beiden Grundstücke voneinander trennte, und überquerte mit einem schnellen Satz den einen Meter hohen weißen Zaun zu Sebastians Grundstück. Hinter ihm kam eine Frau um die dreißig angesprintet. Schnell. Gelenkig. Sie lag nur wenige Schritte zurück, als auch sie durch die Hecke brach und immer weiter zu dem jungen Mann aufschloss. Sebastian beobachtete die Verfolgungsjagd und wettete darauf, dass der Flüchtende den Zaun zum nächsten Grundstück nicht mehr erreichen würde. Und richtig. Nur wenige Meter davon entfernt legte die Frau einen beachtlichen Spurt hin und warf den Rothaarigen mit einem gezielten Hechtsprung zu Boden. Man musste allerdings zugeben, dass sie auf dem weichen Bodenbelag im Vorteil war, da sie Schuhe trug, dachte Sebastian, während er sah, wie die beiden durch den Schwung des Sturzes ein Stück über den Boden kullerten, bevor sie zum Stillstand kamen. Mit einem schnellen Griff drehte die Frau den Arm des Jungen auf den Rücken. Ein Polizeigriff. Sebastian stand auf und ging ein paar Schritte über den Rasen. Nicht, dass er auch nur im Entferntesten behilflich sein wollte – es ging ihm nur darum, besser sehen zu können. Die Frau schien die Situation unter Kontrolle zu haben. Außerdem kam bereits ein ungefähr gleichaltriger Mann angerannt, um zu helfen. Anscheinend auch er Polizist, denn er zauberte schnell ein paar Handschellen hervor und begann, die Arme des jungen Mannes auf seinem Rücken zu fesseln.
«Lassen Sie mich los, verdammt! Ich habe nichts getan!» Der Rothaarige wand sich unter dem effektiven Griff der Frau auf dem Rasen, so gut es ging.
«Warum rennst du dann vor uns weg?», fragte die Frau und zog den Jungen gemeinsam mit ihrem Kollegen auf die Füße. Sie gingen zur Vorderseite des Hauses, wo vermutlich ein Auto wartete. Auf dem kurzen
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