Der Mann, der kein Mörder war
ihn sofort geliebt. Ihn nie mehr abnehmen wollen.
Jener Tag hatte in Slow Motion begonnen. Sie waren erst spät aufgestanden und hatten vorgehabt, im Hotel zu bleiben und einen ruhigen Tag am Pool zu verbringen. Lily war joggen gegangen, zu einem verspäteten, verkürzten Lauf. Als er mit Sabine nach draußen kam, zeigte sie nicht das geringste Interesse daran, am Pool zu liegen und zu faulenzen. Nein, sie hatte solche Hummeln im Hintern, dass er die Idee hatte, kurz an den Strand zu gehen. Sabine liebte den Strand. Sie liebte es, wenn er sie unter den Achseln fasste und mit ihr in den Wellen spielte. Sie kreischte vor Freude, wenn er ihren kleinen Körper in die Luft warf und wieder ins Wasser tauchte, hoch und runter wirbelte. Auf dem Weg zum Strand begegneten ihnen einige andere Kinder. Es war zwei Tage nach Heiligabend, und die Kinder probierten ihr neues Spielzeug aus. Er trug Sabine auf seinen Schultern. Ein Mädchen spielte mit einem aufblasbaren Delfin, hellblau und niedlich, und Sabine streckte sich danach und sagte:
«Papa, so einen will ich auch.»
Das war der letzte Satz, den sie an ihn richtete. Der Strand lag etwas entfernt hinter einer großen Düne, und er ging mit schnellen Schritten dorthin, damit sie den blauen Delfin vergaß. Es funktionierte, und Sabine lachte, als er im warmen Sand voranstapfte. Ihre zarten Hände an seiner unrasierten Wange. Ihr Lachen, als er fast stolperte.
Es war Lilys Idee gewesen, über Weihnachten zu verreisen. Und er hatte nichts dagegen gehabt. Feiertagsrummel war nicht gerade Sebastians Stärke, und noch dazu tat er sich mit Lilys Familie schwer, sodass er sofort einwilligte, als sie die Reise vorschlug. Er war zwar kein Freund von Sonne und Meer, aber er begriff, dass Lily ihm – wie immer – das Leben ein wenig erleichtern wollte. Außerdem liebte Sabine Sonne und Meer, und was Sabine gefiel, machte auch ihn glücklich. Es war für Sebastian eine relativ neue Erfahrung, Dinge anderen Menschen zuliebe zu tun. Das hatte er erst durch Sabine kennengelernt. Eine schöne Erfahrung, dachte er, als er dort am Strand stand und auf den Indischen Ozean blickte. Er setzte Sabine ab, die sofort mit ihren kurzen Beinchen auf das Wasser zurannte. Es schien viel seichter als an den vorangegangenen Tagen, und der Strand war breiter als sonst. Er vermutete, dass die Ebbe das Wasser so weit hatte abfließen lassen. Er hob seine kleine Tochter hoch und rannte mit ihr zum Wasser. Es sah etwas trüb und grau aus, aber die Temperatur von Luft und Wasser war perfekt. Vollkommen unbekümmert küsste er Sabine ein letztes Mal, bevor er sie bis zum Bauch in das warme Meerwasser tauchte. Sie kreischte und lachte, für sie war das Wasser respekteinflößend und wunderbar zugleich, und eine Sekunde lang musste Sebastian an den psychologischen Fachbegriff für ihr gemeinsames Spiel denken. Vertrauensübungen. Papa lässt nicht los, das Kind wird immer mutiger. Ein einfaches Wort, dessen Bedeutung er früher eigentlich nie praktiziert hatte. Vertrauen. Sabine kreischte voller angstdurchmischter Freude, und Sebastian hörte das Donnern nicht gleich. Zu sehr war er fasziniert von dem Vertrauen, das zwischen ihm und ihr bestand. Als er das Geräusch wahrnahm, war es zu spät.
An diesem Tag hatte er ein neues Wort gelernt. Ein Wort, das er, der so belesen war, nie zuvor gehört hatte: Tsunami. In jenen Morgenstunden, in denen er den Traum zuließ, verlor er sie aufs Neue.
Und die Trauer zerriss ihn so sehr, dass er glaubte, nie wieder aufstehen zu können.
Aber er schaffte es.
Allmählich.
Und das, was sein Leben war, ging weiter.
L eonard! Clara Lundin wusste sofort, dass es um ihren Sohn ging, als sie das junge Paar auf dem Treppenabsatz erblickte. Noch bevor sie sich vorstellten und ihre Dienstausweise zeigten, wusste sie, dass diese beiden weder Zeugen Jehovas noch irgendwelche Vertreter waren. Sie wusste es, und ihr Magen krampfte sich vor Nervosität zusammen. Vielleicht intensivierte sich das Gefühl auch nur. Clara hatte dieses Ziehen im Magen nun schon so lange, dass sie es manchmal kaum noch bemerkte. Wenn abends das Telefon klingelte. Wenn sie an den Wochenenden Sirenen auf den Straßen hörte. Wenn sie aufwachte, weil Leonard seine Freunde mit nach Hause brachte. Wenn sie in ihrem Posteingang eine Mail von der Schule entdeckte.
«Ist Leo da?», fragte Vanja und steckte ihren Dienstausweis zurück in die Jackentasche.
«Leonard», korrigierte Clara sie aus reinem Reflex.
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