Der Mann, der kein Mörder war
mittlerweile zunehmend Schadenersatzforderungen an Schulen gestellt, die nicht gegen Mobbing vorgingen. Und die Vikinga-Schule habe kein Interesse daran, Teil dieser wachsenden Statistik zu werden.
Irgendwie war es dann doch gegangen. Nach einem Sommerhalbjahr, in dem Clara das Gefühl hatte, nichts anderes zu tun, als Leonard zu drohen oder ihn zu bestechen, endete die Mittelstufe, und während der Sommerferien redete sie sich erfolgreich ein, dass auf dem Gymnasium alles besser werde. Sie würden einen Neuanfang machen. Doch so kam es nicht. Denn Leonard und Roger waren am selben Gymnasium angemeldet, dem Runeberg-Gymnasium. Leonard war noch immer dort, Roger hatte die Schule nach nur einem Monat verlassen. Clara wusste, dass Leonard einer der Hauptgründe für Rogers Schulwechsel gewesen war. Aber war er am Ende sogar mehr als das? Wütend wischte Clara diesen Gedanken sofort beiseite. Was war sie denn für eine Mutter, dass sie so etwas von ihrem Sohn dachte! Aber es gelang ihr nicht, die nagende Sorge zu verdrängen. War ihr Sohn ein Mörder?
Jetzt hörte Clara in der Einfahrt Schritte, die sich näherten, und wandte sich um. Sebastian Bergman kam mit zwei Plastiktüten von Statoil in der Hand angeschlendert. Claras Gesichtszüge verhärteten sich.
«Sind die schon wieder hier?», fragte er und wies mit dem Kopf auf ihr Haus. «Wenn Sie möchten, können Sie zu mir kommen und dort warten, das wird sicherlich noch eine Weile dauern.»
«Ach, jetzt machen Sie sich auf einmal Gedanken um mich?»
«Nicht direkt, aber ich bin eben gut erzogen. Wir sind immerhin Nachbarn.»
Clara schnaubte verächtlich und warf ihm einen kühlen Blick zu.
«Nein danke, ich komme schon zurecht.»
«Das kann sein, aber Sie scheinen zu frieren, und das ganze Viertel weiß bereits, dass die Polizei bei Ihnen ist. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Pressemeute kommt. Und die wird nicht an Ihrer Grundstücksgrenze haltmachen. Wenn Sie mich anstrengend finden, dann seien Sie sich gewiss, dass ich im Vergleich zu denen völlig harmlos bin.»
Clara blickte Sebastian erneut an. Zwei Journalisten hatten tatsächlich schon angerufen. Einer davon sogar viermal hintereinander. Clara hatte nicht die geringste Lust, ihnen persönlich zu begegnen. Sie nickte und machte ein paar Schritte auf ihn zu. Gemeinsam gingen sie zur Gartenpforte.
«Sebastian?»
Sebastian erkannte die Stimme sofort wieder und drehte sich zu dem Mann um, den er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Auf der Treppe vor Claras Eingangstür stand Torkel mit einem, milde gesagt, erstaunten Gesichtsausdruck. Sebastian wandte sich kurz an Clara.
«Gehen Sie schon mal rein, es ist offen. Können Sie die mitnehmen?» Er reichte ihr die Einkaufstüten. «Falls Sie Lust haben, uns etwas zu essen zu machen, hätte ich nichts dagegen.»
Ein wenig verwundert nahm Clara die Einkäufe entgegen. Einen Moment lang schien es, als wollte sie etwas fragen, dann besann sie sich und steuerte auf Sebastians Haus zu. Sebastian sah Torkel an, der völlig verblüfft wirkte.
«Was zum Teufel machst du hier?»
Torkel streckte ihm seine Hand entgegen, und Sebastian schlug ein. Torkel drückte sie fest. «Schön, dich zu sehen! Es muss Ewigkeiten her sein.»
Was offenbar bedeutete, dass er Sebastian nun unbedingt auch noch umarmen musste. Eine kurze, energische Umarmung, die Sebastian nicht direkt erwiderte. Anschließend trat Torkel einen Schritt zurück.
«Was machst du in Västerås?»
«Ich wohne da drüben.» Sebastian deutete auf das Nachbarhaus. «Im Haus meiner Mutter. Sie ist gestorben. Ich muss es verkaufen, deshalb bin ich hier.»
«Das tut mir leid zu hören – das mit deiner Mutter.»
Sebastian zuckte mit den Schultern. Ganz so tragisch war es nicht, und das hätte Torkel eigentlich auch wissen müssen, immerhin hatten sie sich über einige Jahre hinweg ziemlich nahegestanden. Das war zwar schon lange her, zwölf Jahre, um genau zu sein, aber sie hatten damals unzählige Male über Sebastians Eltern und sein Verhältnis zu ihnen gesprochen. Wahrscheinlich hatte Torkel nur höflich sein wollen. Wie hätte er sich auch sonst verhalten sollen? Es war zu viel Zeit vergangen, um einfach dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten. Zu viel Zeit, als dass sie überhaupt noch behaupten konnten, einander zu kennen. Zu viel Zeit, um ihre Unterhaltung ungezwungen dahinplätschern zu lassen. Und so entstand eine Pause.
«Ich arbeite immer noch bei der
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