Der Mann, der kein Mörder war
Flur gestürzt kam. Er stellte sich als Ulf Hansson vor und erläuterte Vanja in den darauffolgenden drei Minuten, dass er ernsthaft vorhabe, Anzeige zu erstatten, weil die Polizei seine minderjährige Tochter in Abwesenheit von Erziehungsberechtigen verhöre, noch dazu in der Schule der Tochter! Genauso gut hätte man ihr ein Schild mit der Aufschrift «verdächtig» um den Hals hängen können. Hatte sie den keine Ahnung, wie die Jugendlichen sich das Maul zerrissen? Hätte sie die Angelegenheit nicht etwas diskreter handhaben können?
Vanja erklärte so ruhig wie möglich, dass Lisa nach der gesetzlichen Definition nicht mehr unmündig sei, dass sie immerhin die letzte Person sei, die Roger lebend gesehen habe – abgesehen von seinem Mörder, fügte sie vorsichtshalber hinzu – und dass sie lediglich gewisse Angaben überprüfen wolle. Außerdem sei Vanja sofort auf Lisas Wunsch eingegangen, ihren Vater zu dem Gespräch hinzuzubitten, und habe ihr seither keine einzige Frage gestellt. Ulf Hansson sah Lisa prüfend an, und diese nickte. Des Weiteren bot Vanja an, Lisa nachher in die Klasse zurückzubegleiten und zu erklären, dass sie in keinster Weise verdächtig sei, in den Mord an Roger Eriksson verwickelt zu sein.
Damit schien sich Ulf Hansson zufriedenzugeben und beruhigte sich etwas. Gemeinsam gingen sie in einen blitzsauberen Aufenthaltsraum und ließen sich auf den weichen Sofas nieder.
Vanja berichtete, dass im Verlauf der Ermittlungen zwei Zeugen unabhängig voneinander ausgesagt hätten, dass Roger sich an jenem Freitagabend um kurz nach neun in der Stadt aufgehalten habe und nicht, wie Lisa angab, bei ihr zu Hause. Zu Vanjas Verwunderung drehte Ulf sich noch nicht einmal zu seiner Tochter um, bevor er antwortete.
«Dann irren sich Ihre Zeugen.»
«Beide?» Vanja konnte ihre Verwunderung nicht verbergen.
«Ja. Wenn Lisa sagt, dass Roger bis 22 Uhr bei ihr war, dann war es auch so. Meine Tochter lügt nicht.» Ulf legte beschützend seinen Arm um Lisa, als wolle er seiner Aussage damit noch mehr Gewicht verleihen.
«Vielleicht hat sie sich aber auch die ganze Zeit über getäuscht, so etwas kann passieren», sagte Vanja und ließ ihren Blick zu Lisa wandern, die stumm an der Seite ihres Vaters saß.
«Aber sie sagt doch, dass Roger gegangen ist, bevor die Nachrichten bei TV 4 anfingen. Und die beginnen jeden Abend um 22 Uhr, wenn mich nicht alles täuscht.»
Vanja gab auf. Stattdessen richtete sie sich nun direkt an Lisa.
«Kann es denn sein, dass du dich mit dem Zeitpunkt vertan hast? Es ist wichtig, dass unsere Informationen genau stimmen, damit wir denjenigen finden können, der Roger umgebracht hat.»
Lisa drückte sich ein wenig enger an ihren Vater und schüttelte den Kopf.
«Na also, da sehen Sie es. Gibt es sonst noch etwas zu besprechen? Ansonsten muss ich dringend wieder zurück zur Arbeit.»
Vanja verkniff es sich zu erwähnen, dass sie eine halbe Stunde darauf gewartet hatte, ihre Fragen stellen zu dürfen, und dass auch sie Arbeit zu erledigen hatte. Die vermutlich wichtiger war als seine. Sie unternahm einen letzten Versuch.
«Beide Personen, mit denen wir gesprochen haben, sind sich bezüglich des Zeitpunkts sicher, und das völlig unabhängig voneinander.»
Ulf fixierte sie, und seine Stimme nahm an Schärfe zu, als er zu reden begann. Offenbar war er es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach.
«Meine Tochter ist sich auch sicher. Also steht hier Aussage gegen Aussage, oder?»
Vanja kam nicht weiter. Lisa gab keinen Mucks von sich, und Ulf machte deutlich, dass er künftig bei jedem Gespräch dabei zu sein hatte. Vanja klärte ihn nicht darüber auf, dass die Entscheidung darüber nicht bei ihm, sondern bei ihr und ihren Kollegen lag. Stattdessen schwieg sie, während Ulf aufstand, seine Tochter umarmte, ihr einen Kuss auf die Wange drückte, Vanja mit einem Nicken und Händedruck verabschiedete und den Aufenthaltsraum und das Gebäude verließ.
Vanja blieb stehen und sah ihm nach. Eigentlich waren Eltern, die so hundertprozentig hinter ihren Kindern standen, ja etwas Großartiges. In ihrem Job begegnete Vanja nur allzu oft das genaue Gegenteil. Familien, in denen die Jugendlichen mehr oder weniger Fremde waren und die Eltern keine Ahnung hatten, was ihre Kinder trieben und mit wem. Eigentlich hätte ein Vater, der von der Arbeit gestürzt kam, den Arm um seine Tochter legte, ihr vertraute und sie verteidigte, deshalb eine willkommene Ausnahme in Vanjas Welt
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