Der Mann, der kein Mörder war
umkreisen. Dann soll Roger ihn umgestoßen haben, das behauptet Leonard jedenfalls. Daraufhin gerieten sie richtig aneinander und prügelten sich. So sehr, dass Roger Nasenbluten bekam. Mit ein paar Fausthieben streckte Leonard Roger zu Boden und nahm ihm obendrein die Uhr weg.»
Es herrschte betretenes Schwiegen. Das Einzige, was sie jetzt noch gegen Leonard in der Hand hatten, war die Uhr. Es gab nichts, was dagegen sprach, dass Leonard die Wahrheit gesagt hatte, keine Zeugenaussage, keine Indizien. Vanja fuhr fort.
«Aber das sind natürlich nur Leonards Behauptungen. Der Streit kann genauso gut eskaliert sein, und er hat am Ende sein Messer gezogen und Roger umgebracht.»
«Mit mehr als zwanzig Stichen? In einer relativ belebten Straße und ohne, dass jemand etwas bemerkt?» Ursula klang zu recht skeptisch.
«Wir wissen ja noch nicht, wie es dort in der Gegend aussieht. Er kann in Panik geraten sein. Ein Stich, und Roger liegt am Boden und schreit. Leo begreift, dass er dafür ins Gefängnis wandern wird, schleppt ihn ins Gebüsch und sticht weiter auf ihn ein. Um ihn zum Schweigen zu bringen.»
«Und das Herz?» Ursula klang noch immer alles andere als überzeugt.
Vanja konnte ihre Zweifel nachvollziehen.
«Ich weiß nicht. Aber unabhängig davon,
was
genau geschehen ist, es geschah auf jeden Fall um kurz nach neun. Leo hat die Zeitangabe bestätigt. Er hat auf die Uhr gesehen, als er sie von Rogers Arm nahm. Was bedeutet, dass Roger nicht, wie Lisa behauptet, bis 22 Uhr bei ihr war.» Torkel nickte.
«Okay, gute Arbeit. Haben wir etwas vom Fundort?» Er wandte sich Ursula zu.
«Nicht viel. Die Reifenabdrücke, die wir gefunden haben, stammen von einem Pirelli P7. Nicht gerade ein Standardreifen, aber trotzdem ziemlich häufig. Außerdem wissen wir auch nicht mit Sicherheit, ob der Abdruck tatsächlich von dem Auto stammt, das die Leiche dorthin transportiert hat.»
Ursula zog ein Blatt und ein Foto von dem Reifenabdruck aus ihrer Mappe und überreichte sie Billy. Er ging nach vorn, um die neuen Informationen an der Tafel zu befestigen.
«Hatte Leo Lundin Zugang zu einem Auto?», fragte Torkel, während Billy das Foto und das Informationsblatt zum Pirelli-Reifen festpinnte.
«Nicht dass ich wüsste. Heute Vormittag stand keins in der Auffahrt.»
«Wie soll er dann eine Leiche bis nach Listakärr transportiert haben? Auf seinem Moped?» Die anderen schwiegen. Natürlich nicht. Eine ohnehin schwache Theorie über den Tathergang wurde mit einem Mal noch schwächer. Dennoch waren sie gezwungen, ihr nachzugehen, bevor sie sie ganz verwarfen.
«Ursula und ich werden den Lundins mit ein paar uniformierten Kollegen einen Besuch abstatten und das Haus durchsuchen. Billy, du fährst zur Gustavsborgsgatan und untersuchst, ob es überhaupt denkbar ist, dass der Mord dort stattgefunden hat. Vanja, du sprichst …»
«… nochmal mit Lisa Hansson», ergänzte Vanja und konnte ihre Freude nur schwer verbergen.
Clara stand vor dem Haus und rauchte. Vor einer halben Stunde waren erneut Beamte von der Reichskriminalpolizei mit uniformierten Polizisten im Schlepptau eingetroffen. Als Clara sich erkundigt hatte, ob sie zum Polizeipräsidium fahren und mit dieser Vanja Lithner sprechen könne, deren Visitenkarte sie hatte, bekam sie lediglich die knappe Antwort, Leonard sitze noch in Untersuchungshaft, bis sie seine Angaben kontrolliert hätten. Und ihr Haus durchsucht. Wenn sie jetzt also bitte so freundlich wäre …
Und nun stand sie da, aus ihrem eigenen Haus vertrieben, sie rauchte, fror trotz der Frühlingswärme und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Oder, besser gesagt, einen Gedanken zu verdrängen, der hartnäckig wiederkehrte und den sie mehr als alles andere fürchtete: Leonard konnte tatsächlich etwas mit Rogers Tod zu tun haben. Clara wusste, dass sie nicht gerade die besten Freunde gewesen waren. Nein, wem wollte sie hier eigentlich etwas vormachen? Leonard hatte Roger gemobbt und schikaniert. Teilweise auch mit Gewalt.
Als die Jungen in die Mittelstufe kamen, war Clara unzählige Male beim Rektor gewesen, zuletzt ging es sogar darum, Leonard von der Schule zu werfen. Aber die allgemeine Schulpflicht hatte diese letzte Konsequenz verhindert. Ob denn keine Möglichkeit bestehe, dass Clara mit Leonard rede, die Situation sozusagen innerhalb der eigenen vier Wände löse? Es sei nämlich äußerst wichtig, das Problem in den Griff zu bekommen, hatte man Clara erklärt. Es würden
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