Der Mann, der kein Mörder war
Reichsmordkommission», brach Torkel nach einigen Sekunden das Schweigen.
«Das weiß ich bereits. Ich habe von dem Jungen gehört.»
«Ja …»
Erneutes Schweigen. Torkel räusperte sich und deutete in Richtung des Hauses, aus dem er gerade gekommen war.
«Ich muss weitermachen …» Sebastian nickte verständnisvoll. Torkel lächelte ihn an.
«Und halte dich lieber fern, damit Ursula dich nicht zu Gesicht bekommt.»
«Ihr arbeitet also immer noch zusammen?»
«Sie ist eben die Beste.»
«Ich bin der Beste.»
Torkel betrachtete den Mann, den er vor vielen Jahren als seinen Freund bezeichnet hätte. Vielleicht nicht gerade als besten oder guten Freund, aber definitiv als Freund. Natürlich hätte er Sebastians Kommentar einfach ignorieren können oder zustimmend nicken, lachen, ihm einen Klaps auf die Schulter geben und wieder ins Haus gehen können, aber das wäre nicht fair gewesen. Keine dieser Varianten. Deshalb sagte er:
«Du
warst
der Beste. In vielen Bereichen. Und in anderen ein völlig hoffnungsloser Fall.»
Eigentlich hatte Sebastian mit seinem blöden Kommentar gar nichts bezwecken wollen. Er war eher ein Reflex gewesen. Ein Rückenmarksreflex. In den vier Jahren, die er mit Ursula zusammengearbeitet hatte, hatten sie in ständiger Konkurrenz zueinander gestanden: unterschiedliche Gebiete, unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche Ansichten. Allein in einer Sache waren sie auf geradezu rührende Weise einer Meinung gewesen: Nur einer von ihnen konnte der Beste im Team sein. Diese Einschätzung lag ihnen beiden im Blut. Doch Torkel hatte recht. In vielen oder zumindest einigen Bereichen war Sebastian unschlagbar gewesen. In anderen ein völlig hoffnungsloser Fall. Sebastian lächelte schwach.
«Leider habe ich meine hoffnungslose Seite weiter ausgebaut. Pass auf dich auf.»
«Du auch.»
Sebastian drehte sich um und ging zum Gartentor. Zu seiner Verwunderung folgte kein «Wir sollten uns mal wieder treffen» oder «Gehen wir doch mal ein Bier trinken» von Torkel. Offenbar hatte er genauso wenig wie Sebastian das Bedürfnis, die Freundschaft wieder aufzuwärmen.
Als Sebastian nach links zu seinem Elternhaus abgebogen war, sah Torkel, wie Ursula auf die Treppe vor Claras Haus hinaustrat. Sie blickte dem Mann nach, der im Nachbarhaus verschwand. Ihr Blick strahlte etwas ganz anderes aus als die Verwunderung, die Torkel gezeigt hatte, als er Sebastian sah.
«War das Sebastian?»
Torkel nickte.
«Was zum Teufel macht der hier?»
«Offenbar war seine Mutter die Nachbarin.»
«Aha, und womit beschäftigt er sich zurzeit?»
«Angeblich damit, seine hoffnungslose Seite weiter auszubauen.»
«Also keine Veränderung zu früher», antwortete Ursula vieldeutig.
Torkel musste innerlich lächeln, als er daran dachte, wie Ursula und Sebastian sich ständig über jedes Detail, jede Analyse, jeden weiteren Ermittlungsschritt gestritten hatten. Im Grunde waren sie sich furchtbar ähnlich, wahrscheinlich konnten sie genau deshalb nicht zusammenarbeiten. Sie gingen zum Haus zurück. Unterwegs überreichte Ursula Torkel eine verschlossene Plastiktüte.
«Was ist das?»
«Ein T-Shirt. Wir haben es im Wäschekorb im Badezimmer gefunden. Voller Blut.»
Mit Interesse betrachtete Torkel das Kleidungsstück in der Tüte. Es sah nicht gut aus für Leonard Lundin.
V anja hatte länger als erhofft darauf warten müssen, wieder mit Lisa Hansson sprechen zu können. Zunächst war sie zum Palmlövska-Gymnasium gefahren, das ein Stück außerhalb von Västerås lag. Es war zweifelsohne eine Schule mit großen Ambitionen. Akkurat gepflanzte Baumreihen, gelbverputzte, graffitifreie Mauern und, wie man hörte, immer wieder Bestnoten im nationalen Leistungsvergleich. Ein Ort, den Schüler wie Leonard Lundin noch nicht einmal von Fotos her kannten. Dieses Vorzeigegymnasium hatte Roger also besucht, nachdem er von der Runeberg-Schule in der Stadtmitte hierher gewechselt war. Vanja spürte, dass irgendetwas mit diesem Schulwechsel einherging, dem sie auf den Grund gehen musste. Roger war in eine völlig andere Umgebung gekommen. Ob in diesem Zusammenhang etwas vorgefallen war? Große Veränderungen konnten zu Konflikten führen. Vanja beschloss herauszufinden, wer Roger Eriksson eigentlich gewesen war. Das würde ihr nächster Schritt sein. Aber zuvor musste sie sich Klarheit über diese Abendstunden verschaffen, über die Lisa Hansson so hartnäckig log.
Bis Vanja endlich herausbekommen hatte, in welche Klasse Lisa
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