Der Mann, der kein Mörder war
Und weiter?»
«‹Aha, dann wird es wohl so gewesen sein›, ist das ein Eingeständnis?» Billy blickte von seinem Notizblock auf und fixierte den Jungen. Leonard erwiderte seinen Blick eine Sekunde lang und nickte dann. Billy übersetzte das Nicken für das Aufnahmegerät auf dem Tisch: «Leonard beantwortet die Frage mit Ja.»
Vanja fuhr fort.
«Du bist auf dieselbe Schule gegangen wie Roger, aber er wechselte. Weißt du, warum?»
«Das müssen Sie ihn fragen.»
So was von dämlich! So – respektlos. Billy hätte ihn am liebsten am Schlafittchen gepackt und geschüttelt. Vanja spürte es und legte ihre Hand diskret auf den Unterarm des Kollegen. Ohne auch nur im Geringsten auf die Provokation zu reagieren, öffnete sie die Mappe, die vor ihr auf dem Tisch lag.
«Das hätte ich zu gern getan. Aber wie du vielleicht mitbekommen hast, ist er tot. Man hat ihm das Herz herausgeschnitten und ihn in einen Tümpel geworfen. Ich habe ein paar Fotos hier …»
Vanja begann, die großformatigen, hochauflösenden Aufnahmen vom Fundort und aus dem Leichenhaus vor Leonard auszubreiten. Vanja und Billy wussten beide, dass es keinerlei Rolle spielte, wie viele Tote man bereits in Filmen und Computerspielen gesehen hatte. Kein Medium wurde dem Tod gerecht. Nicht einmal die besten Spezialeffekte konnten den Anblick einer echten Leiche heraufbeschwören und dieselben Gefühle auslösen. Insbesondere dann nicht, wenn man die Person noch eine Woche zuvor lebend gesehen hatte, so wie Leonard. Er warf einen kurzen Blick auf die Fotos. Versuchte unberührt zu wirken, doch Vanja und Billy bemerkten sofort, dass es schwer, wenn nicht sogar unmöglich für ihn war, sich die Bilder anzusehen. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Dass er es nicht über sich brachte, genauer hinzusehen, konnte ebenso gut an den schockierenden Fotos wie an Schuldgefühlen liegen. Bilder wie diese trafen Täter mit derselben Wucht wie Unschuldige. Nahezu ausnahmslos. Die Reaktion war also nicht das Wichtige. Es ging eher darum, das Verhör in eine ernstere Richtung zu lenken. Dieses freche, ausweichende Verhalten zu durchbrechen. Vanja fuhr fort, Bild für Bild vor Leo auf dem Tisch aufzureihen, und Billy dachte, dass sie ihn immer wieder aufs Neue beeindruckte. Obwohl sie einige Jahre jünger war als er, war sie wie eine große Schwester. Eine Schwester, die in allen Fächern eine Eins hatte, aber keine Streberin war, sondern cool. Und die immer für ihre kleinen Geschwister eintrat. Jetzt beugte sie sich zu Leonard vor.
«Wir wollen denjenigen finden, der das getan hat. Und das werden wir auch. Momentan haben wir allerdings nur einen Verdächtigen, und das bist du. Also – wenn du hier rauskommen und vor deinen Kumpels damit angeben willst, wie du vor den Bullen abgehauen bist, wäre es am besten, du würdest deine Abwehrhaltung ablegen und anfangen, meine Fragen zu beantworten.»
«Ich sage doch, dass ich ihn am Freitag getroffen habe.»
«Das ist aber nicht die Antwort auf meine Frage. Ich habe gefragt, warum er die Schule wechselte.»
Leonard seufzte.
«Vermutlich, weil wir ein bisschen fies zu ihm waren. Vielleicht deshalb. Aber ich war nicht der Einzige. Niemand auf unserer Schule mochte ihn.»
«Jetzt enttäuschst du mich aber, Leonard. Die wirklich harten Jungs schieben doch nicht den anderen die Schuld zu. Du warst doch einer der Anführer, oder? Das habe ich jedenfalls gehört.»
Leo sah sie an und wollte gerade mit Ja antworten, als Billy einwarf: «Tolle Uhr. Ist das eine Tonino Lamborghini Pilot?»
Es wurde still im Raum. Vanja sah Billy verwundert an. Nicht weil er die Uhr an Leonards Arm identifiziert hatte, sondern wegen seines unerwarteten Themenwechsels. Leonard änderte die Stellung seiner verschränkten Arme, sodass die Uhr vom rechten Arm verdeckt wurde. Aber er sagte nichts. Das brauchte er auch nicht. Vanja wandte sich ihm zu.
«Wenn du keinen Kassenbeleg für diese Uhr vorweisen kannst, dann sieht es nicht gut für dich aus.»
Leonard blickte in ihre ernsten Gesichter. Er schluckte.
Und fing an zu erzählen. Alles.
«Er gibt zu, dass er die Uhr gestohlen hat. Er war mit seinem Moped unterwegs, als er Roger
hier
begegnete.» Vanja zeichnete ein Kreuz auf der Karte an der Wand ein. Ursula und Torkel hörten aufmerksam zu, während Billy und Vanja die wichtigsten Ergebnisse aus dem Verhör mit Leo zusammenfassten.
«Er sagte aus, dass er ihn nur ein bisschen ärgern wollte und anfing, ihn mit dem Moped zu
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