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Der Mann, der kein Mörder war

Der Mann, der kein Mörder war

Titel: Der Mann, der kein Mörder war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hjorth , Rosenfeldt
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sein müssen. Eigentlich. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass Ulf nicht Lisa verteidigte, sondern vielmehr das Bild von der perfekten Familie mit der wohlerzogenen Tochter, die niemals log. Dass es ihm wichtiger war, um jeden Preis Klatsch und Spekulationen zu vermeiden, als die Wahrheit darüber herauszufinden, was an jenem Freitagabend geschehen war. Vanja wandte sich Lisa zu, die gerade am Fingernagel ihres Ringfingers kaute.
    «Ich bringe dich noch in den Klassenraum.»
    «Das ist nicht nötig.»
    «Ich weiß, aber ich tue es trotzdem.»
    Lisa zuckte mit den Schultern. Sie gingen schweigend an den Spinden der Schüler vorbei, bogen an der Tür zur Cafeteria links ab und stiegen die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Lisa hielt den Kopf gesenkt, sodass Vanja ihren Gesichtsausdruck hinter dem Pony nicht erkennen konnte.
    «Was hast du jetzt?»
    «Spanisch.»
    «¿Qué hay en el bolso?» Lisa sah mit völlig verständnislosem Blick zu Vanja auf. «Das bedeutet ‹Was hast du in der Tasche?›.»
    «Ich weiß.»
    «Ich habe in der Mittelstufe auch Spanisch gelernt, und das ist im Prinzip das Einzige, woran ich mich erinnern kann.»
    «Aha.»
    Vanja verstummte. Lisa hatte ihr deutlich signalisiert, wie wenig sie an Vanjas armseligen Spanischkenntnissen interessiert war. Offenbar waren sie an Lisas Raum angelangt, denn sie blieb stehen und streckte ihre Hand zum Türgriff. Vanja legte ihre Hand auf Lisas Arm. Lisa zuckte kurz zusammen, dann sah sie wieder zu Vanja auf.
    «Ich weiß, dass du lügst», sagte Vanja leise und sah dem Mädchen tief in die Augen. Lisa blickte mit völlig ausdrucksloser Miene zurück. «Ich weiß zwar nicht, warum, aber das werde ich irgendwie herausfinden.»
    Vanja schwieg und wartete auf eine Reaktion. Doch die blieb aus.
    «Möchtest du mir jetzt, wo du weißt, dass ich es weiß, noch etwas sagen?»
    Lisa schüttelte den Kopf.
    «Was soll ich schon sagen?»
    «Die Wahrheit zum Beispiel.»
    «Ich hab jetzt Spanisch.» Lisa blickte auf Vanjas Hand, die noch immer auf ihrem Arm lag. Vanja nahm sie zurück.
    «Na gut, dann werden wir uns wohl bald wiedersehen.»
    Vanja wandte sich um und ging, und das Mädchen sah ihr nach, bis sie durch die Glastüren am Ende des Gangs verschwunden war. Vorsichtig ließ Lisa den Türgriff los, entfernte sich einige Schritte und holte ihr Handy aus der Tasche. Schnell wählte sie eine Nummer. Sie hatte weder den Namen noch die Nummer der Person, die sie jetzt anrief, in ihrem Adressbuch gespeichert und es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Anrufliste nach jedem Gespräch zu löschen. Nach mehreren Freizeichen nahm jemand ab.
    «Ich bin’s.» Lisa blickte nochmals den Gang hinunter. Vollkommen leer. «Die Polizei war gerade hier.»
    Sie verdrehte die Augen, als sie hörte, was die Person am anderen Ende der Leitung sagte.
    «Nein, natürlich habe ich nichts gesagt, aber sie werden es rausfinden. Eine von denen hat schon zweimal mit mir gesprochen. Und sie wird wiederkommen. Das weiß ich.»
    Lisa, der es während der gesamten Vernehmung gelungen war, desinteressiert dreinzuschauen, wirkte nun nervös. Sie hatte es schon so lange verheimlicht, hatte die Wahrheit in einem kleinen Winkel tief in ihrem Inneren verborgen und begraben. Jetzt begriff sie mehr und mehr, dass es viele Menschen gab, die sie ihr entreißen wollten, und ihre Kräfte schwanden. Die Person am anderen Ende versuchte, sie zu bestärken, ihr Mut zu machen und ihr Argumente an die Hand zu geben. Sie nickte und fühlte sich wieder ein wenig gefestigt. Es würde schon gutgehen. Sie legte schnell auf, als sie Schritte hinter sich auf dem Gang hörte, strich eine Strähne ihres Ponys beiseite, die sich in ihren Wimpern verfangen hatte, verdrängte ihre Unruhe und ging in den Spanischunterricht. So leichtfüßig, wie sie konnte.
     
     
    Lena Eriksson hatte den Vormittag im selben Sessel zugebracht wie am Vortag. Jetzt taumelte sie durch die Wohnung. Kettenrauchend. Ein blauer Nikotindunst hing in der kleinen Dreizimmerwohnung im ersten Stock. An keinem Platz hielt sie es lange aus. Eine Weile hatte sie auf Rogers zerwühltem Bett gesessen, doch es wurde immer unerträglicher, die Jeans, den Stapel mit Schulbüchern und sein altes Videospiel anzusehen, all die Spuren, dass ein sechzehnjähriger Junge in diesem Zimmer gelebt hatte. Sie versuchte im Badezimmer, in der Küche, in ihrem eigenen Schlafzimmer zur Ruhe zu kommen. Doch jeder Ort erinnerte sie zu sehr an ihn, sodass sie zum nächsten

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