Der Mann, der kein Mörder war
weiterzog und dann zum nächsten. So drehte sie Runde für Runde in der Wohnung, eine trauernde Mutter. Doch da war auch noch das andere, das sie rastlos umherlaufen ließ. Die Stimme. Die leise Stimme tief in ihrer Seele.
War es ihr Fehler? Verdammt, warum hatte sie sich auch zu diesen Gesprächen hinreißen lassen. Aber sie war so wütend gewesen. Sie hatte sich rächen wollen. So hatte es angefangen. Mit dem Geld. Die Gespräche, das Geld, die Gespräche. Runde für Runde, so, wie sie jetzt durch ihre Wohnung taumelte. Hatte genau das zu diesem Ende geführt? Sie wusste es nicht, wusste es wirklich nicht. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie es herausfinden sollte. Aber sie musste es wissen. Sie brauchte Gewissheit darüber, dass sie lediglich eine Mutter war, die ihren Sohn verloren hatte, eine Unschuldige, der das Schlimmste widerfahren war, das man sich vorstellen konnte. Lena steckte sich eine weitere Zigarette an. Heute wären sie eigentlich zusammen einkaufen gegangen. Wie immer hätten sie sich um Geld, Kleidung, Benehmen, Respekt gestritten. Sie wusste genau, wie leid Roger all diese Wörter gewesen war. Lena fing an zu weinen. Sie vermisste ihn so sehr. Sie fiel auf die Knie und ließ Trauer und Schmerz zu. Es war eine Befreiung, aber durch die Tränen hindurch hörte sie erneut die Stimme.
Was, wenn du schuld bist.
«Man fühlt sich so sehr wie eine schlechte Mutter. Man denkt, man hätte alles getan, aber sie entgleiten einem einfach.»
Clara trank den letzten Rest Kaffee aus und stellte ihre Tasse wieder auf den Tisch. Sie blickte Sebastian an, der ihr gegenübersaß. Er nickte zustimmend, ohne richtig zugehört zu haben. Seit sie im Haus waren, hatte Clara von nichts anderem geredet als von ihrem schlechten Verhältnis zu Leonard. Angesichts der morgendlichen Ereignisse war das verständlich, aber für niemanden als die nächsten Angehörigen sonderlich interessant. Jetzt überlegte Sebastian, ob er sie darauf hinweisen sollte, dass ihr ständiger Gebrauch von «man» anstelle von «ich», wenn sie von sich selbst redete, ein verbaler Verteidigungsmechanismus war, eine Möglichkeit, eigenes Versagen allgemeingültiger und weniger persönlich erscheinen und so einen Teil des Schmerzes von sich abprallen zu lassen. Aber er sah ein, dass sie das als boshaft auffassen und er damit nur ihre negative Meinung von ihm bestärken würde. Und das wollte er nicht.
Jedenfalls noch nicht.
Nicht, ehe er sich entschieden hatte, ob er versuchen sollte, sie ins Bett zu kriegen oder nicht. Daher machte er auf die sanfte Tour weiter. Ruhig und vertrauenerweckend. Nicht urteilend, sondern verständnisvoll. Er schielte kurz auf ihre Brüste, die unter diesem gelbbraunen Pullover sehr verlockend aussahen.
«So ist das mit Kindern. Manchmal klappt es, manchmal nicht. Eine Blutsverwandtschaft ist keine Garantie für ein funktionierendes Verhältnis.»
Sebastian musste innerlich grinsen. Wie scharfsinnig! Sieben Jahre Psychologiestudium, zwanzig Jahre Berufserfahrung und dann eine derartige Weisheit, derart tröstende Worte an eine Frau, deren Leben innerhalb weniger Stunden komplett auf den Kopf gestellt worden war. «Manchmal klappt es, manchmal nicht.»
Zu seinem Erstaunen nickte Clara ernst, offenbar gefiel ihr seine fundierte Analyse. Sie lächelte ihn sogar voller Dankbarkeit an. Wenn er sich nicht allzu dumm anstellte, könnte es durchaus klappen, sie ins Bett zu kriegen. Als er ins Haus gekommen war, hatte sie schon Essen zubereitet. Pyttipanna mit Spiegeleiern. Sie hatte noch ein Glas unverdorbene Rote Beete im Kühlschrank gefunden. Und zwei Leichtbier. Sebastian hatte das Essen mit gutem Appetit verschlungen, während sie fast nur darin herumgestochert hatte.
Der Klumpen in ihrem Magen wuchs mit jeder Minute, ihr war inzwischen permanent übel. Aber es war ein schönes Gefühl gewesen, an einem gedeckten Tisch zu sitzen. Und jemandem zum Reden zu haben, mit dem man die Sache noch einmal durchgehen konnte. Jemand, der zuhörte und der so klug war. Es war beruhigend. Im Grunde genommen war er doch ziemlich nett, dieser vermeintliche Grobian.
Sie wandte sich Sebastian zu, der gerade mit dem Rücken zu ihr stand und die Geschirrspülmaschine einräumte.
«Sie waren nicht besonders oft hier zu Besuch, oder? Wir sind 1999 eingezogen, und ich glaube, ich habe Sie noch kein einziges Mal gesehen.» Sebastian antwortete nicht sofort. Wenn Clara mit Esther gesprochen hatte, so, wie sie es vorhin im Garten
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