Der Mann, der kein Mörder war
Sebastians blaue Augen und wusste, dass er die Antwort bereits kannte. Er hatte die Situation durchschaut.
Er wusste, dass es nicht nur um die Mietwohnung in dieser trostlosen Gegend ging oder darum, dass der DVD -Player eigentlich ein Blu-ray sein sollte und man jedes halbe Jahr ein neues Handy brauchte. Er wusste, dass sie nicht gut genug war. Mit ihrem Aussehen, ihrem Übergewicht und ihrer schlechtbezahlten Arbeit. Er wusste, dass Roger sich für sie geschämt hatte. Dass er sie nicht länger als Teil seines Lebens hatte ansehen wollen und sie hinausgeworfen hatte. Aber er wusste nicht, dass sie einen Ausweg gefunden hatte. Einen Weg zurück zu ihm. Zurück zu ihnen beiden.
Aber dann starb er,
sagte die leise Stimme,
so viel zum Weg zurück.
Mit zittrigen Händen öffnete Lena die Schachtel und zündete Zigarette Nummer vierundzwanzig an, bevor sie Sebastian die Antwort gab, die er bereits kannte.
«Vermutlich nicht.»
Lena verstummte und schüttelte den Kopf, als sei sie gerade erst von der Einsicht überrascht worden, was für eine schlechte Beziehung sie eigentlich zu ihrem Sohn hatte. Ihr Blick verlor sich in der Ferne.
Das Gespräch wurde von Ursula unterbrochen, die mit ihren zwei Taschen und einer Kamera um den Hals aus Rogers Zimmer kam.
«Ich bin so weit. Wir sehen uns später auf dem Präsidium.» Ursula richtete sich an Lena. «Mein Beileid nochmal.»
Lena nickte abwesend. Ursula warf Vanja einen ziemlich vielsagenden Blick zu, ignorierte Sebastian und verließ die Wohnung. Vanja wartete, bis die Wohnungstür ins Schloss gefallen war.
«Rogers Vater, wie können wir den erreichen?»
Ein erneuter Versuch von Vanja. Eine neue Fährte. Mal sehen, ob es möglich war, der Mutter über irgendetwas einen Satz mit mehr als drei Wörtern zu entlocken.
«Es gibt keinen Vater.»
«Alle Achtung, so was hat es zum letzten Mal vor zweitausend Jahren gegeben!»
Lena sah Vanja durch den Rauch hindurch ruhig an.
«Verurteilen Sie mich? Sie würden gut auf Rogers neue Schule passen.»
«Niemand verurteilt Sie, aber es muss doch irgendwo einen Vater geben.» Es war Sebastian, der sich einmischte. Bildete Vanja sich das nur ein, oder hatte seine Stimme einen neuen Unterton? Verriet sie ein besonderes Interesse? Ein Engagement?
Lena klopfte die Asche von ihrer Zigarette und zuckte mit den Schultern.
«Ich weiß nicht, wo er ist. Wir waren nie ein Paar. Es war eine einmalige Geschichte. Er weiß nicht einmal, dass Roger existiert.»
Sebastian beugte sich vor. Mittlerweile eindeutig interessierter. Er begegnete Lenas Blick offen.
«Wie haben Sie das gelöst? Ich meine, Roger wird doch irgendwann mal nach seinem Vater gefragt haben?»
«Ja, als er kleiner war.»
«Und was haben Sie ihm gesagt?»
«Ich habe ihm gesagt, dass er tot wäre.»
Sebastian nickte nur. War es das, was auch Anna Eriksson ihrem Sohn oder ihrer Tochter erzählt hatte? Dass Papa tot war? Was aber würde in einem solchen Fall passieren, wenn der Vater mit einem Mal auftauchte? Nach dreißig Jahren? Man würde ihm natürlich mit Misstrauen begegnen. Irgendwie müsste wohl bewiesen werden, dass er wirklich derjenige war, für den er sich ausgab. Vermutlich wäre der Mann oder die Frau fürchterlich wütend auf die Mutter oder enttäuscht von ihr. Sie hatte gelogen. Ein Kind seines Vaters beraubt. Vielleicht würde Sebastians Auftauchen ihre Beziehung komplett zerstören. Mehr Schaden als Nutzen anrichten. Wie er die ganze Sache auch drehte und wendete, kam er zu dem Ergebnis, dass es am besten war, ganz einfach so weiterzuleben, als hätte er die Briefe nie gefunden. Es nie erfahren.
«Und warum haben Sie behauptet, er wäre tot? Wenn Roger die Wahrheit gewusst hätte, hätte er ihn treffen können.»
«Daran habe ich auch gedacht. Aber ich hielt es für besser zu sagen, dass er tot wäre, als Roger zu erklären, dass er ihn nicht haben wollte. Für Rogers Selbstbewusstsein, verstehen Sie.»
«Aber das wissen Sie doch gar nicht! Sie wissen doch gar nicht, was der Vater wollte! Er bekam ja nie eine Chance!» Vanja schielte zu Sebastian herüber. Es war unglaublich, wie engagiert er auf einmal war. Seine Stimme war höher und lauter geworden. Er war zur äußersten Kante des Sofas vorgerutscht und sah aus, als wollte er jeden Moment aufspringen.
«Stellen Sie sich einmal vor, dass er Roger vielleicht hätte haben wollen. Wenn er es nur gewusst hätte.»
Lena schien von Sebastians heftigem Ausbruch ziemlich unberührt. Sie drückte
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