Der Mann, der kein Mörder war
der Polizei über ihn sprach. Wirklich sprach. Zwar hatte Maarit, eine Arbeitskollegin, sie angerufen und unbeholfen und unangenehm berührt ihr Beileid ausgesprochen, aber Lena hatte das Gespräch so schnell wie möglich beendet. Ihr Chef hatte angerufen, allerdings hauptsächlich, um ihr mitzuteilen, dass er Verständnis dafür habe, wenn Lena ein paar Tage freinehmen wolle, und dass sie versuchten, ihre Schicht unter den Kollegen aufzuteilen. Aber sie solle sich bitte rechtzeitig vorher melden, wenn sie plane wiederzukommen. Die Polizisten, die vorher da gewesen waren, hatten lediglich mehr über Rogers Verschwinden erfahren wollen, war er schon mal von zu Hause abgehauen, hatte er Sorgen, wurde er bedroht? Sie wollten nichts über seine Persönlichkeit wissen. Über ihn als Sohn. Nichts darüber, wer er gewesen war und wie viel er ihr bedeutet hatte.
Im Gegensatz zu der Journalistin. Sie hatten gemeinsam Fotoalben angesehen, und sie hatte Lena in ihrem eigenen Tempo erzählen lassen und nur hin und wieder eine Frage eingeworfen oder genauer nachgefragt. Nachdem Lena das gesagt hatte, was sie über ihren Sohn sagen konnte und wollte, hatte die Frau begonnen, direktere Fragen zu stellen. War Roger einer, zu dem die Freunde kamen, wenn sie Hilfe brauchten? Engagierte er sich ehrenamtlich? Trainierte er irgendeine Jugendmannschaft, stand er Pate für jemanden? Irgendetwas dieser Art? Lena hatte alle Fragen wahrheitsgemäß mit nein beantwortet. Die einzigen Freunde, die ihn zu Hause besucht hatten, waren Johan Strand und ein anderer Junge von der neuen Schule. Erik Soundso. Der war einmal da gewesen. Lena hatte gemeint, einen Anflug von Enttäuschung im Gesicht der Journalistin zu erkennen. Ob Lena denn etwas mehr über das Mobbing berichten könne? Über ihre Gefühle, als sie erfuhr, dass der ehemalige Peiniger ihres Sohnes wegen Mordverdachts verhaftet worden war? Obwohl das nicht die aktuellsten Nachrichten waren, fand die Journalistin – die Katarina hieß –, dass man sie noch einmal aufwärmen konnte. Mit einem Bild von Rogers Bett und den beiden Kuscheltieren darauf konnte das funktionieren. Also hatte Lena erzählt. Vom Mobbing. Von der Gewalt. Vom Schulwechsel. Aber am meisten darüber, wie sicher sie sich war, dass Leo Lundin ihren Sohn umgebracht hatte und dass sie ihm nie verzeihen würde. Dann hatte Katarina das Diktiergerät ausgeschaltet, gefragt, ob sie einige Bilder aus dem Familienalbum mitnehmen dürfe, bezahlt und war gegangen. Das war gestern gewesen. Lena hatte das Geld in die Tasche gestopft. So viel Geld. Sie hatte überlegt, essen zu gehen. Sie musste wirklich einmal aus der Wohnung kommen. Sie musste etwas essen. Aber sie blieb sitzen. Im Sessel. Mit ihren Zigaretten und dem Geld in der Tasche. Immer, wenn sie ihre Sitzposition änderte, spürte sie das Geld am Bein. Und jedes Mal erwachte die leise Stimme in ihr von neuem.
Dieses Geld hat ihn jedenfalls nicht umgebracht.
Schließlich war sie aufgestanden und hatte das Geldbündel in eine Kommodenschublade gelegt. Sie ging nicht raus, sie aß nicht, sie saß im Sessel und rauchte. Wie sie es schon den ganzen Tag getan hatte. Und nun waren zwei neue Polizisten da und wollten über Geld reden.
«Das Kindergeld und die Studienhilfe reichten aus, bis er auf diese verdammte Bonzenschule wechselte. Ab da musste er ständig etwas Neues haben.»
Vanja stutzte verwundert. Sie hatte vorausgesetzt, dass Lena nur Gutes über das Palmlövska-Gymnasium zu sagen hätte. Immerhin hatte ihr Sohn einen Platz auf einer Schule angeboten bekommen, die ausgezeichnet und attraktiv war, davon war Vanja überzeugt, egal, was sie von dem Schulleiter hielt. Und Roger war auf diese Weise vor seinen Peinigern gerettet worden.
«Fanden Sie den Schulwechsel Ihres Sohnes denn nicht gut?»
Lena sah sie nicht an. Sie blickte zu dem großen Fenster hinüber. Auf dem Fensterbrett standen eine Lampe mit blauem Glasschirm und zwei Blumentöpfe mit verwelkten Diefenbachien. Wann hatte sie sie zum letzten Mal gegossen? Es musste lange her sein. Die Einblättrigen hatten sich besser gehalten, aber auch sie waren ganz schlaff. In dem abnehmenden Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinfiel, bemerkte sie, wie verräuchert ihre Wohnung war.
«Sie hat ihn mir weggenommen», sagte sie und drückte dabei ihre Zigarette aus, erhob sich aus dem Sessel und ging zur Balkontür, um sie zu öffnen.
«Wer hat Ihnen Roger weggenommen?»
«Beatrice. Und diese ganze
Weitere Kostenlose Bücher