Der Mann, der kein Mörder war
freiwillig dafür entscheiden, nicht darauf zu reagieren?»
«Um überhaupt weiterleben zu können.»
Vanja schwieg. Da kam eine neue Seite an Sebastian zum Vorschein.
Erst verbiss er sich wie ein Terrier in die Angelegenheit um Rogers Vater. Ein Thema, dass sich bereits nach der zweiten Frage als völlig belanglos für die Ermittlung erwiesen hatte, und jetzt glaubte Vanja, eine neue Nuance in seiner Stimme wahrzunehmen. Gedämpfter, nicht mehr so widerborstig. Nicht darauf aus, schlagfertig, witzig oder herablassend zu sein. Nein, da war etwas anderes. Trauer vielleicht.
«Das glaube ich einfach nicht. Es ist doch abartig, nicht um seinen Sohn zu trauern.»
«Sie trauert, so gut sie kann.»
«Einen Teufel tut sie.»
«Woher willst du das bitte schön wissen?»
Vanja zuckte angesichts der plötzlichen Schärfe in Sebastians Stimme zusammen.
«Was weißt du überhaupt von Trauer? Hast du jemals jemanden verloren, der dir alles bedeutet hat?»
«Nein.»
«Woher willst du also wissen, was eine normale Reaktion ist?»
«Das tue ich ja auch gar nicht, aber …»
«Nein. Eben!», unterbrach Sebastian sie. «Du hast nicht den geringsten Schimmer, wovon du eigentlich redest, und in solchen Fällen solltest du vielleicht lieber die Klappe halten.»
Vanja schielte zu Sebastian hinüber, überrascht von seinem Wutausbruch. Aber er blickte nur starr geradeaus auf die Straße. Vanja schwieg den Rest der Fahrt über. Wir wissen so wenig voneinander, dachte sie. Du verbirgst etwas. Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Besser, als du glaubst.
Das Großraumbüro im Polizeipräsidium lag mehr oder weniger im Dunkeln. Hier und da erhellte ein eingeschalteter Bildschirm oder eine vergessene Schreibtischlampe einen Teil des Raums, davon abgesehen war es dunkel, leer und still. Auf dem Weg zum erleuchteten Pausenraum ging Torkel langsam zwischen den Schreibtischen entlang. Dass auf dem Polizeipräsidium in Västerås nicht rund um die Uhr geschäftiges Treiben herrschte, hatte er geahnt, dass allerdings große Teile des Hauses schon ab 17 Uhr völlig ausgestorben wirkten, überraschte ihn doch.
Torkel erreichte den ziemlich unpersönlichen Aufenthaltsraum. Drei runde Tische mit je acht Stühlen. Kühl- und Gefrierschrank, drei Mikrowellen, eine Kaffeemaschine. An der Längsseite eine Arbeitsplatte mit Spüle und Spülmaschine. In der Mitte jedes Tisches Plastikblumen auf einem dunkelroten, runden Deckchen. Ein pflegeleichter, zerkratzter Linoleumfußboden. An keinem der drei Fenster Gardinen. Ein einsames Telefon auf dem Fensterbrett. Sebastian saß mit einem Pappbecher Kaffee vor sich an dem Tisch, der am weitesten von der Tür entfernt war. Er las das
Aftonbladet
. Torkel hatte auch darin geblättert. Lena Eriksson hatte vier Seiten bekommen, wohlformuliert und entblößend.
Laut Artikel glaubte Lena noch immer, dass Leonard Lundin ihren Sohn ermordet hatte. Torkel fragte sich, wie sie die Nachricht aufgenommen hatte, dass er heute freigelassen worden war. Er hatte mehrmals versucht sie anzurufen, um es ihr zu sagen, aber sie war nie ans Telefon gegangen. Vielleicht wusste sie es immer noch nicht.
Sebastian sah nicht von seiner Lektüre auf, obwohl er gehört haben musste, dass Torkel sich näherte. Erst als Torkel sich auf einen Stuhl ihm gegenüber setzte, warf er einen kurzen Blick auf die Gesellschaft, bevor er sich wieder der Zeitung widmete. Torkel faltete die Hände auf dem Tisch und beugte sich vor.
«Wie lief es heute?»
Sebastian blätterte um.
«Was?»
«Alles. Die Arbeit. Du warst viel mit Vanja unterwegs.»
«Ja.»
Torkel seufzte innerlich. Offenbar sollte er nichts umsonst bekommen. Vermutlich sogar gar nichts.
«Und wie lief es?»
«Gut.»
Torkel beobachtete, wie Sebastian erneut eine Seite umblätterte und bei der rosa Beilage angelangte. Sport. Er wusste, dass Sebastian vollkommen desinteressiert an jeder nur erdenklichen Sportart war, egal, ob es darum ging, sie auszuüben, anzuschauen oder darüber zu lesen. Dennoch schien er die Seiten nun mit großem Interesse zu studieren. Torkel lehnte sich zurück, beobachtete Sebastian einige Sekunden lang schweigend und ging dann zur Kaffeemaschine, um sich per Knopfdruck einen Cappuccino zubereiten zu lassen.
«Hast du Lust, mit mir was essen zu gehen?»
Sebastian erstarrte. Da war es. Wie befürchtet. Kein «wir sollten uns mal wieder treffen» oder «wir sollten mal ein Bier trinken gehen», sondern essen gehen. Same shit,
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