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Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte

Titel: Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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ich war wieder in der Stadt, in die ich gehörte, aber beides ging nicht mehr zusammen. Ich ahnte zum ersten Mal, dass sich mein L eben auch abgesehen von meiner Verstümmelung grundsätzlich geändert haben könnte – dass ein Mensch sich ändern kann, auch wenn er sich über die Zeit hinweg als unwandelbare Einheit begreift.
    Die Parkstraße war in den 50er Jahren Stadtrand gewesen und g esäumt von den typischen schmucklosen Einfamilienhäusern aus dieser Zeit. Am frühen Nachmittag stand ich vor dem Haus Nummer 8, das indes kein Einfamilienhaus war, sondern ein Reihenhausblock ohne Vorgarten. Trist und grau war es hier, trostlos, und eines der Klingelschilder trug den Namen Lackmann. Melanies Mädchenname. Ich war erschüttert. Mein worst-case-Szenario war noch zu optimistisch gewesen. Melanie war nicht mal mehr wütend oder enttäuscht, und sie war auch nicht nur auf Zeit aus unserem gemeinsamen Haus ausgezogen. Sie hatte meinen Namen abgelegt und damit alle Brücken abgebrochen.
    Ich machte kehrt und ging in die Richtung zurück, aus der ich g ekommen war. Obwohl ich mich mit einer Trennung abgefunden zu haben meinte, war ich aus der Bahn geworfen und so mutlos, dass ich am liebsten auf der Stelle mit allem Schluss gemacht hätte. Nach ein paar Metern blieb ich stehen, blieb einfach stehen, drehte mich um, ging zurück und klingelte. Ich wollte sie wenigstens noch einmal sehen. Ich klingelte noch dreimal, setzte mich dann auf die Türschwelle und wartete.
    Nach einer Weile fiel mir etwas ein. Ich stand auf, ging in i rgendeine Richtung los, suchte einen Garten oder Park, fand schließlich jenseits des Ortsschildes eine Blumenwiese und machte mich daran, einen kleinen Strauß zusammen zu pflücken. In unseren Breiten war es warm, aber Ende April musste man die Blüten noch suchen. Ich rupfte Stängel um Stängel, bis meine linke Hand das Bündel nicht mehr umfassen konnte, klemmte den provisorischen Strauß mit dem Stumpf an meinen Körper und pflückte weiter. Die Sonne schien mir warm auf den Rücken, die Wiese duftete grün und herb.
    In di esen Minuten vergaß ich, wer ich war und wo ich war, was gestern und vorgestern und letzten Monat gewesen war und dass ich nicht wusste, was nächste Woche sein würde. Ich wollte ein paar schöne Blumen für das Wiedersehen mit meiner Frau, mehr nicht.
    Auf dem Bü rgersteig breitete ich aus, was ich gepflückt hatte, und ordnete die verschiedenen Blütenarten ringförmig von innen nach außen zu einem nun doch erstaunlich vielfältigen Wiesenblumenstrauß. Wiedersehen und Abschied lagen für mich darin und alles, was ich Melanie in den letzten Jahren hatte sagen wollen aber nicht hatte sagen können.
    Irgendwann spätnachmittags war ich zurück an ihrem Haus, klinge lte bei Lackmann, bekam nicht aufgemacht und setzte mich auf den Treppenabsatz. Meinen rechten Ärmel hatte ich aufgekrempelt, weil ich es nicht leiden konnte, wenn mein Stumpf darin verschwand. Nun krempelte ich ihn herunter, um Melanie nicht zu sehr zu entsetzen, nahm die Blumen wieder auf und wartete, bekam einen kalten Hintern, saß dagegen an.
    Ich hätte auch die Nacht so ve rbracht, aber mit der Dämmerung kam eine Frau aus Richtung Innenstadt, eine Frau mit kurzen Haaren und Plastiktüte, deren Erscheinung ich nicht kannte, nur ihren Gang. Es war Melanies Art zu gehen, aber nicht ihre Art, sich zu geben.
    Sie erkannte mich sofort.
    Am Treppenabsatz blieb sie stehen und sah mich an. Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen weinten. Sie schaute auf die Blumen und meinen leeren Ärmel. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nur, dass ich es nicht ertragen hätte, mit einer freundschaftlichen, gespielt herzlichen Umarmung und Bussi-Bussi begrüßt zu werden. Lieber offene Gleichgültigkeit oder Ablehnung und gar kein Körperkontakt als so einer. Deshalb stand ich auf und hielt ihr den Strauß hin, um ihr einen Grund zu geben, auf Distanz zu bleiben, aber sie ging an den Blumen vorbei auf mich zu, ließ ihren Plastikbeutel fallen und drückte sich an mich.
    Ihr kurzer, dunkler Haarschopf roch nicht nach den teuren Dü ften, die ich von ihr kannte, sondern nur nach Kopf, es war ihr eigener Geruch, und ihre Umarmung, fest mit beiden Armen, und ihr Kuss waren so echt und von ihr wie seit Jahren nicht. In diesem Moment war ich am Ziel, ich wollte weder vor noch zurück in der Zeit, und ich wollte an keinem anderen Ort der Welt sein. An meinem rechten Schlüsselbein, wo sie ihr Gesicht vergraben hatte,

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