Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
fand ich ohne Licht, ich orientierte mich am Röhren des bauchigen alten Kühlschrankes. Essensgerüche aus Jah rzehnten hingen darin. Ich fand eine Packung Milch, ein großes Stück Käse und ein paar Tomaten. Aus dem Schrank daneben holte ich mir ein Päckchen Knäckebrot. Es stand ein Tablett bereit, aber für ein Tablett braucht man zwei Arme. Also musste ich vier mal zwischen der Küchenzeile und dem wackligen Holztisch hin und hergehen, um erst die Milch und ein Glas, dann den Käse, dann die Tomaten und dann das Brot hinüberzutragen.
Das Knäckebrot kam mir entgegen, die Scheiben waren mundg erecht. Die Milchpackung allerdings stellte mich vor Schwierigkeiten. Seit meiner Flucht aus dem Versuchslabor, hatte immer irgend jemand für mich gesorgt: Lina hatte mir das Brot geschnitten, der Pfarrer hatte mir Flaschen geöffnet, selbst auf dem Flug hierher war mir, wegen meines vermeintlichen Gipsarmes, die Stewardess beim Öffnen der Instant-Mahlzeiten behilflich gewesen.
Ich fingerte mit der linken Hand an den Laschen des Ausgussve rschlusses herum, versuchte es mit den Zähnen, und schließlich drückte ich mir, um sie zu fixieren, die Packung mit dem Stumpf an die Brust und zerrte mit der Linken an den Laschen herum, aber der Karton war zu fest.
Ich hörte ein Schniefen, drehte mich zur Tür und sah Melanie mir zusehen. Sie hatte einen Frotteebadema ntel an und meine Hose und mein T-Shirt über dem Arm hängen. Ich schämte mich unendlich, ich wurde sogar rot.
„Es gibt keine Zentralheizung in diesem Haus, du solltest dir was anziehen.“
Sie kam zu mir herüber, reichte mir die Sachen, nahm mir die Milchpackung ab, öffnete sie und goss mir ein. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Was hat er dir nur angetan“, flüsterte sie weinend und drüc kte mich an sich. Mein Hals wurde in der Kehle dick und schmerzte, ich musste mich beherrschen, um nicht aufzuschluchzen, aber plötzlich fiel mir etwas auf, und der Gedanke lenkte mich schlagartig ab. Ich löste mich aus ihrer Umarmung und schaute zu ihr hoch.
„Moment mal, du weißt...“
„Was?“
„Ich dachte, du denkst...“
„Was?“
„Mein Arm, ich meine, weißt du...“
Sie schüttelte den Kopf.
„Das spielt keine Rolle für mich. Das einzige, was zählt, ist, dass du lebst und dass sie dich freigela ssen haben.“
Und auf einmal war ich fassungslos darüber, wie vernagelt, blind und blöd ich gewesen war. Nur so machte der ganze Au fwand, den Honkes betrieben hatte, überhaupt einen Sinn. Ich hatte mich zu wichtig genommen, das war der Grund, warum ich nicht einmal als vage Möglichkeit daran gedacht hatte. Ich hatte allen Ernstes geglaubt, dieser unberechenbare Gewaltmensch hätte ein halbes Dutzend anderer Verbrecher mobilisiert, eine tagelange Reise per Auto und Flugzeug auf sich genommen, eine Frau kidnappen und vergewaltigen lassen, Richter, Staatsanwalt und weiß Gott noch wen bestochen, diesen Lump von Billardkugel auf mich angesetzt, nur um ein Spielchen mit mir zu spielen und mir eine Lektion zu erteilen, weil er wegen mir ein paar Stunden im Gefängnis zugebracht hatte. Die ganze Zeit hatte ich geglaubt, Melanie sei von dem, was mir passiert war, unberührt und ahnungslos – dabei war ich derjenige, der keine Ahnung gehabt hatte oder hatte haben wollen, was in Wahrheit passiert war.
„Das ganze war eine Lösegelderpressung?“, fragte ich.
„Ja, sicher. Dieser Honkes hat... Aber sag mal, bist du denn nicht in seiner Gewalt gewesen?“
Ich lachte bitter.
„Doch, für ein paar Tage.“
„Ein paar Tage nur? Aber...“
„Wieviel hat er gewollt?“
„Alles.“
„Was heißt alles?“
„Die Forderung war: absolut alles. Ich sollte unseren gesa mten Besitz, alles angelegte Vermögen, die Autos, sämtliche Wertgegenstände, eben absolut alles zu Geld machen. Knapp 15 Millionen Mark.“
„Unser Haus?“
„Das natürlich vor allem. Was meinst du, warum ich hier lebe?“
„Wer hat es gekauft?“
„Hermann.“
„Wer!?!“
„Dr. Hermann Bacher, unser Vermögensverwalter. Er war der einzige, an den ich mich wenden durfte, aber auch nur, als Honkes begriffen hatte, dass es nicht anders ging.“
„Und die Polizei?“
„Keine Polizei. Niemand weiß etwas, auch Hermann durfte ich natürlich nicht die Wahrheit sagen. Der denkt wahrscheinlich, du wärst auf und davon und hättest mir so viele Schulden hinterlassen, dass ich nicht anders konnte als...“
„Und dieser verdammte Stinkstiefel hat nicht mal
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