Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
tatsäc hlich recht damit: Was ich durchlitten hatte, war mir nur passiert, weil ich so war wie ich eben war. Und sie war so wie sie war, und so wie wir waren oder geworden waren, passten wir nicht zusammen, punkt. Mehr war nicht zu sagen.
Die Wacholderhecke, die mein Anwesen begrenzte, lag in der ob eren Hälfte im blendenden Licht der aufgehenden Sonne. Der Zeitpunkt war genau richtig. Melanie würde schon aufgestanden sein, aber noch nicht aus dem Haus. Wir würden ein kurzes Gespräch führen, sie würde nicht merken, wie sehr ich sie vermisst hatte, denn ihr erster strafender Blick würde meine Wiedersehensfreude im Keim ersticken. Sie würde sich von mir nicht aufhalten lassen, ihren selbstauferlegten Pflichten nachzugehen, um mir zu zeigen, wie wenig meine Rückkehr ihr bedeutete.
Ich drückte den Klingelknopf. Hinter mir fuhr ein Auto vo rbei. Dr. Forstmann, unser nächstliegender Nachbar. Er schaute mir missbilligend ins Gesicht und erkannte mich nicht. Wieder so ein Penner in unserem sauberen Viertel, sah ich ihn denken. Hoffentlich rief er nicht die Polizei.
„Ja bitte“, kam es rauschend aus dem Lautsprecher. Silke He inigs Stimme. Ich war erleichtert, dass nicht Melanie rangegangen war und dass damit die Auseinandersetzung nicht schon hier am Tor begann, ohne dass wir uns zuvor in die Augen geschaut hätten.
„Ich bin’s. Machst du bitte mal auf.“
„Wer ist da?“
„Na ich, Frank, wer denn sonst?“
„Was willst du hier?“
„Was ich will? Sag mal, willst du mich veräppeln?“
„Ich kann dich nicht reinlassen.“
„Du kannst mich nicht in mein eigenes Haus lassen?“
„Du weißt genau, dass das ist nicht mehr dein Haus ist.“
„Was? Jetzt wird es mir aber zu dumm, Silke. Lass mich rein oder hole zumindest Melanie an den Lautsprecher.“
„Melanie wohnt hier auch nicht mehr, weißt du das nicht?“
„Blödsinn, wer sollte denn sonst hier wohnen? Das Haus hat mein Vater gebaut.“
„Ich kann dich nicht reinlassen.“
„Verdammt, ich will jetzt sofort mit Melanie sprechen!“
Rauschen.
„Silke...“
„Versuch es mal in der Fontanestraße, Nummer weiß ich nicht. Ich glaub, sie wohnt da bei einer Freundin, Stöhr oder Stöcker oder so ähnlich.“
„Jetzt lass mich doch wenigstens mal kurz herein, damit...“
„Bitte gehe jetzt. Ich will keinen Ärger bekommen.“
„Silke!“
Das Rauschen brach ab. Sie hatte die Gegensprechanlage ausgeschaltet. Kalte Wut packte mich. Ich klingelte Sturm, minutenlang – keine Reaktion.
Kurzerhand klammerte ich meine linke Hand ans Gitter und suchte Trittmöglichkeiten für die Füße. Ich selbst hatte das Tor so ko nstruieren lassen, dass es schwer zu erklettern war. Keine Chance mit einem Arm. Ich warf mich gegen die Wacholderhecke, versuchte mich durch die Äste zu schlängeln, aber mein Vater hatte sie in ein Maschendrahtgeflecht einwachsen lassen. Womöglich löste ich den Alarm aus. Ich gab es auf.
Die Fontanestraße war, wenn ich das richtig im Kopf hatte, am a nderen Ende der Stadt. Ich hatte nicht mal die zwei Mark für den Bus. Keine 30 Pfennige für ein schlichtes Brötchen. Meine letzte Mahlzeit hatte ich im Flugzeug vor gut 24 Stunden gehabt. Zu gerne hätte ich auf dem Weg zu Melanie in einer Bäckerei halt gemacht, aber ich hätte mir das Frühstück erbetteln müssen.
Nach allem, was ich in den letzten Monaten durchgemacht hatte, berüh rte mich diese Erfahrung zutiefst: In meiner Geburtsstadt, in der ich seit ich mir denken kann gelebt hatte wie ein kleiner König, war ich nun heimatlos und musste hungern. Ich redete mir ein, das sei nur für den Augenblick. Silke hatte mir eine Lektion erteilen wollen. Sie mochte Melanie nicht ausstehen können, aber mein vermeintliches Verhalten, sie im Stich gelassen zu haben, hatte ihr allen Grund gegeben, sich mit ihr zu solidarisieren.
Doch meine Unruhe wuchs auf dem Weg zur Fontanestraße. Stöhr, Stöcker, wie auch immer – nie hatte ich von einer Freundin dieses Namens gehört. Und mit Leuten aus Mietskasernen, wie sie die Fo ntanestraße bestimmten, hatte Melanie ihr Leben lang jeden Umgang vermieden.
Ich kam an einer Telefonzelle vorbei und schlug die Namen nach. Eine Rita Stöhr gab es in der Hausnummer 12, einen oder eine L. Stöcker in der 111 und dann noch einen Hans Stölzel in der 134. Ich blätterte zum Buchstaben F: Fercher, Melanie und Frank, Sch öne Aussicht 17. Es war die Telefonbuch-Ausgabe vom vergangenen Jahr. Wir waren seit dem Tod meiner Eltern
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