Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
angesprungen. Mein linker Arm ist frei, keine Handschellen, keine Riemen, ich bin allein, aber so unendlich müde. Ich würde so gerne, aber kann nicht aufstehen, den Raum verlassen, die Chance nutzen und mich davonstehlen.
Die Wirkung des Narkosemittels hielt noch tagelang an. Ich schlief so gut wie seit Monaten nicht mehr und war ganz ohne Zweifel auf dem Weg, die Vergiftung zu überwinden, die mir Frau Doktor Mondgesicht in den Körper gesät hatte. Ich konnte wieder essen. Mein rechter Arm nahm die neue Haut an, die sie mir vom Oberschenkel gezogen und über Handgelenk und Elle implantiert hatten. Vermutlich brodelte die abgezogene Wucherung in einem Labor ganz in meiner Nähe auf einem Nährboden vor sich hin und würde noch brodeln, wenn ich längst beerdigt wäre. Manche Mitglieder der Ärzte-Exkursionen, die an meinem Bett vorüberpilgerten, waren außer sich vor Entzücken über das etwas wulstige medizinische Wunderwerk, das da wer auch immer an meinem Arm vollbracht hatte.
Ich selbst trauerte in den ersten Tagen der verpassten Chance nach. Ich war frei gewesen, ohne Fesseln, ohne Bewachung, ohne verriegelte Türen, und hatte doch nicht entkommen können. Ich war noch hier, und längst war ich wieder in Handschellen g elegt. Über das vermeintliche medizinische Wunderwerk und den vermeintlichen Heilungsprozess, den die Ärzte in einer fremden Sprache aber mit unmissverständlichen Gesten so bejubelten, konnte ich mich nicht freuen, denn vom ersten Moment spürte ich mit jenem Sinn für das Ineinanderverschränktsein von Gesundheit und Krankheit, für das Ringen des Lebens um ein kleines Übergewicht und einen Vorsprung auf Zeit gegen den Tod, dass meine Heilkraft zwar angesprungen, aber machtlos war.
Schon Tage bevor den Ärzten die Euphorie abhanden kam, sah ich die ersten Sp uren der widerlichen Wucherung auf der neuen Haut. Frau Doktor Mondgesicht ordnete wieder Riemen an und kam mit ihren Skizzen und ihrem Bauchladen mit Salben, Spritzen und Pudern an mein Bett, war voll Streitbarkeit, den Anfängen zu wehren, aber wagte es doch nicht, sich neuerlich an mir zu vergehen. Mag sein, dass sie die Angst in meinen Augen gerührt hatte, mag sein, dass sie den Sinn hatte, das Flackern meiner Heilkraft zu ahnen und zu erkennen, dass sie verloschen wäre im Säurebad ihrer medizinisch-biochemischen Experimente. Sie ließ die Riemen wieder entfernen, ließ mich wuchern und sah mir dabei zu.
Ich dämmerte dem Tod entgegen. Gelegentlich war ich mir ganz s icher, nie von zu Hause weggewesen zu sein. Ich hatte scheußlich von Gefängnis und Käfig geträumt, von einem Biss in meinen Arm, wie abwegig, aber jetzt war ich wieder frei und wach, erfreute mich bester Gesundheit und lag mit Melanie im Whirlpool. Wir küssten uns und liebten uns endlos, und dann streckte sie ihren Rücken auf meinem Bauch, und ihr festes, nasses Bündel Haare lag über meiner Schulter. Ich vermisste sie so sehr und war mir so sicher, dass es am besten war, sie nie wieder zu sehen. Ich wünschte mir, dass sie an mich dachte in der Sekunde meines Todes, dann würde ich bei ihr sein und bei ihr bleiben, und wir würden uns so nah sein wie nie zuvor.
Aber aufgegeben hatte ich noch immer nicht. In den wachen Mome nten, wenn das Fieber herunterging und die Heilkraft für einige Tage die Oberhand gewann, plante ich meine Flucht. Ich musste die Sprache nicht verstehen, um zu durchschauen, dass Frau Doktor Mondgesicht eine zweite Operation plante. Sie führte Luftschnitte mit ihrem Zeigefinger über meinem Arm und erläuterte ihren Kollegen, welche Fläche an Haut mir diesmal abgezogen und ersetzt werden sollte. Ein junger Arzt mit kreisförmiger Glatze schüttelte stumm für sich den Kopf, er wollte sich nicht überzeugen lassen, aber machte keinen Gegenvorschlag. Sein Plan für mich war allgemein bekannt und offenbar ganz anderer Art, aber was hätte man anderes tun können als operieren oder abwarten?
Ich war für operieren, denn darin lag meine einzige Chance, di esem Alptraum zu entkommen – operieren, Flucht, irgendwo einige Tage verstecken und zu Kräften kommen, durchschlagen nach Hause und dort dann Behandlung in einem richtigen Krankenhaus durch kompetente Ärzte. Was immer dieser junge Knilch mit Glatze vorhaben mochte, ich sah in ihm einen Gegner und in Frau Doktor Mondgesicht, dieser elenden Giftmischerin, meine Verbündete. Ich sollte doppelt recht damit haben, aber wogegen sie mich zu schützen versuchte, darauf wäre ich
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