Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
damals mit noch so weit ausholender Fantasie nicht gekommen.
Es ging um Leben und Tod bei dieser Diskussion an meinem Kranke nbett, es ging um Freiheit oder lebenslänglich. Was ich nicht ahnte: Es ging auch um den Preis, den ich für ein Weiterleben und die minimale Aussicht auf Freiheit zu zahlen hatte, und dieser Preis war so hoch, dass ich nicht sagen könnte, ob ich ihn freiwillig gezahlt hätte, würde man mich gewählt haben lassen.
Das Fieber stieg wieder, aber mein Plan gab mir Kraft. Zuweilen musste ich schmunzeln über die Verrücktheit, die ich vorhatte, sie war wie ein Lausbubenstreich, der einfach nur schief gehen konnte, aber man peitschte ihn trotzdem durch, der Gaudi halber. Ich zog mich hoch daran, mir vorzustellen, wie sie glotzen würden, wenn meine Flucht gelang. Im Geiste zückte ich schon den Stinkefinger, ich überschlug mich mit vulgärem Gehabe. Ich war dabei, endlich wieder die Kontrolle über mein Leben zu übernehmen, meine Heil- und Lebenskraft würde auf die Probe gestellt werden wie nie zuvor, ein Abenteuer erwartete mich.
Und es begann schneller als ich erwartet hatte: noch am Abend der großen Ärzte-Diskussion an meiner Wucherung. Schwester Gumm ischuh schob mir zwei weiße, kalkig schmeckende Tabletten in den Mund und wartete, bis ich sie geschluckt hatte. Kaum war sie zur Tür hinaus, steckte ich den Finger in den Hals, würgte sie hervor, pulte sie aus dem Mund, schluckte wieder hinunter, was nicht Tablette war, legte die sich auflösenden Barbiturate in einen Schub des Nachtkästchens, der nie geöffnet wurde, und ließ meinen Peinigern damit auch bewusst eine Spur, damit sie sich später zusammenreimen konnten, wie ich es gemacht hatte.
Zu verhindern, dass sie mir ein erstes Schlafmittel verpassten, schien in meinem Plan der leichteste Schritt, aber tatsächlich wäre daran schon beinahe alles gescheitert. Mein linker Arm war angekettet. Mein rechter Arm war frei, aber eine schwärende Wu nde. Ihn zum Mund zu führen, hieß, ihn anzuwinkeln und die neue Haut, die kaum zu haften begonnen hatte und schon wieder faulte, über Gebühr zu spannen. Es zerriss mich fast dabei, und am liebsten hätte ich die Tabletten wieder zurückgeschluckt und mich in mein Schicksal ergeben. Ich brachte die Hand bis auf ein paar Zentimeter an meinen Mund, versuchte, die breiig gewordenen Pillen über die Distanz zu spucken, verfehlte mein Ziel und musste sie mit zitternden Fingern von der Zudecke klauben. Das Nachtkästchen stand rechts neben mir. Als ich meinen Arm zur Schublade manövrierte, lief mir der Tablettenbrei fast aus der Hand, ein Tropfen glitt auf den Boden.
Der Schub steckte fest. Ich zerrte mit aller Kraft und meinte die neue Haut re ißen zu fühlen. Ein weiterer Tropfen glitt auf den Boden, den Rest ließ ich durch den spaltbreit geöffneten Schubkasten fließen. Quietschende Schritte kamen auf dem Flur heran. Mit einer verzweifelten Seitrückwärtsbewegung schlug ich den Schub zu und stieß mir den wunden, wuchernden Arm so heftig, dass ich hätte schreien mögen.
Die Schritte gingen an der Tür vo rbei, und ich schrie in mich hinein. Ich lagerte den Arm wie gesprungenes Glas, konnte die besudelte Hand nicht abwischen, so dass die dünne Schicht Tabletten-Brei an meinen Fingern zu einer weißen Kruste trocknete.
Die Aufregung ließ mich kaum schlafen. Ich fühlte eine Art Reis efieber und spielte Kopfkino, erdachte mir Kulissen – Gänge, Türen und Fenster, die sich öffnen ließen, Straßen, die in die Heimat führten – und ließ meine Flucht darin ablaufen. Wie ein Sportler vor dem Wettkampf lud ich meinen Körper mit Energie für den großen Moment auf. Nur waren es in meinem Fall die allerletzten Kräfte, die mein geschundener Organismus hergeben würde. Es durfte nichts schief gehen.
Als Schwester Gummischuh zur Morgenschicht die Tür aufstieß, musste ich den Übermüdeten nicht spielen. Ich war erst wenig vo rher eingeschlafen und hatte mindestens zwei Schlaftabletten im Blick. Statt eines Frühstücks brachte sie mir weitere zwei Tabletten. Dank ihrer morgendlichen Hektik konnte ich es riskieren, sie nicht hinunterzuschlucken. Sie auszuspucken und im Schubfach zu entsorgen, war noch einmal eine Quälerei, aber eine gute Übung zum Warmwerden.
Zwei Pfleger holten mich bald darauf, und ich stellte mich abw esend, linste durch halb geöffnete Augen, zwinkerte, nickte wieder weg. Sie nahmen mir die Handschellen ab – ein Glücksstrahl von Freiheit durchfuhr
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