Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
Dorf.
Der Pastor hatte allen erzählt, ich sei ein Freund aus Studient agen, und diese Information genügte den Leuten. Sie behandelten mich freundlich und ließen mich ansonsten in Ruhe. Ich wohnte nun im Haus des Pastors, einem geduckten, eingeschossigen Ziegelbau, den er mit eigenen Händen für sich und seine Frau Else gebaut hatte. Vor drei Jahren war sie gestorben. Er hatte alle Bilder entfernt, ich wusste daher nicht, wie sie ausgesehen hatte.
Wenn der Pastor im Dorf unterwegs war und Alte und Kranke besuc hte oder in der Kirche die nächste Predigt vorbereitete, versuchte ich mich nützlich zu machen, so weit ich das mit einem Arm konnte. Ich suchte mir bewusst die schwierigen, anstrengenden Arbeiten, denn eigentlich war mir alles, was ich tat, nichts anderes als eine Vorbereitung für meine Flucht. Spätestens zum Sommeranfang, wenn es kein so großes Problem mehr sein würde, sich notfalls durch die Wildnis zu schlagen und im Freien zu übernachten, wollte ich los.
Der Pastor hatte hinterm Haus einen Haufen Holz li egen, den er nie gespalten hatte, weil die Leute im Dorf, um die er sich kümmerte, neben Lebensmitteln wie Eier, Speck oder Kartoffeln ihm auch regelmäßig reichlich Brennholz als eine Art Trinkgeld für seinen geistlichen Beistand bei ihren Sorgen vorbei brachten. Der Holzhaufen musste seit Jahren schon liegen, inzwischen schoss das Unkraut zwischen den Klötzen durch und begann sie einzugrünen. Die Axt im Schuppen hatte Rost angesetzt und wackelte am Stiel. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, das Holz zu hacken.
Geduldig schärfte ich die Axt mit einem alten Schlei fstein, legte sie über Nacht zum Quellen in einen Eimer Wasser und richtete den alten Hackbock auf. Bei jeder Bewegung dachte ich an mein Ziel, meine linke Hand so zu trainieren, dass sie mindestens so gut zu gebrauchen sein würde wie früher meine rechte, im besten Fall aber beide Arme ersetzen konnte. Ich staunte selbst über meine ersten Schläge mit der linken Hand. Die Klinge der Axt schnitt meistens gezielt ins Holz, aber drang natürlich kaum ein, weil bei allem Zielen der Schwung zu kurz kam.
So war es meine nächste Lektion, mit dem Armstumpf der rechten beim Schlag z usätzlichen Druck auf den Unterarm der linken Hand auszuüben, was wiederum viel schwieriger war als erwartet. Nun gingen die meisten Schläge fehl, und wenn ich traf, war die Wucht kaum größer als mit dem linken Arm allein.
Ich wusste, dass es eine Sache von Tagen war, zu lernen, die Schläge koordinierter ausz uführen, und so machte ich nicht das zu meinem Tagesziel, sondern nur, im Laufe der Übungen diesen einen rund 40 Zentimeter starken Holzklotz wenigstens einmal zu spalten. Daran arbeitete ich so verbissen, dass ich zunächst nicht sah, wie Lina ums Haus herum in den kleinen Hinterhofgarten des Pastors kam. Zwischen zwei Schlägen spürte ich ihren missbilligenden Blick – sie mochte es nicht, wenn ich mich zu sehr anstrengte. Ich begrüßte sie lachend und wollte sie ins Haus bitten, aber sie schüttelte den Kopf und reichte mir einen zusammengefalteten Zettel.
„Mein Sohn will Besuch machen“, stand da in schön gemalten Buc hstaben. „Nichts sagen dem Pastor bitte.“
Ich faltete den Zettel zusammen und schaute sie an. Sie war nte mich vor ihrem eigenen Sohn. Ich fragte:
„Wann kommt er denn?“
Sie drehte ihre Handflächen nach oben: Sie wusste es nicht genau.
„Kommt er wegen mir?“
Sie hob die Schultern, wiegte den Kopf.
„Woher weißt du, dass er kommt?“
Sie zog einen Brief halb aus ihrer Schürzentasche und steckte ihn gleich wieder zurück.
„Von ihm selbst?“
Sie nickte. Ich hätte zu gerne gewusst, was in dem Brief stand, in welchem Ton er formuliert war. Standen sich die beiden noch nahe? Kam er, um seine Mutter zu besuchen, oder machte er nur einen pflichtschuldigen Abstecher bei ihr zwischen zwei krummen Geschäften? Kam er nicht vielleicht doch vor allem wegen mir?
„Viele Leute wissen, dass ich hier bin.“
Sie nickte.
„Meinst du, ich soll das Dorf verlassen, Lina?“
Sie schüttelte ernst den Kopf.
„Mich verstecken, so lange er hier ist?“
Sie nickte.
„Aber wo? Wie lange wird er bleiben? Und was soll ich dem P astor sagen?“
Sie schüttelte den Kopf und legte einen Finger an die Lippen.
„Nichts sagen bitte.“
„Ich überlege mir was. Danke für die Warnung, Lina.“
Sie lächelte mich an und ging davon.
Ich stand da wie bego ssen, hob dann in einem Anfall von Gefühlen die
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