Der Mann, der mein Leben zum Entgleisen brachte
unwillig.
„Hilfstransport kommt alle halbe Jahr, wie du weißt. So ungefähr...“
Ich legte den Löffel beiseite und lehnte mich zurück.
„Sie meinen, ich soll noch mindestens fünf Monate hier warten?“
„Geht dir doch nicht schlecht hier, oder?“
„Das ist nicht der Punkt. Aber ich möchte verdammt noch mal nicht wissen, was in einer so langen Zeit daheim alles passiert. Mein Sohn wächst ohne Vater auf. Meine Frau hält mich für tot. Womöglich ist sie längst mit jemand anderem zusammen, bis ich zurückkomme.“
„Dann rate ich dir, rufe sie an“, sagte er und schob seinen Te ller beiseite. „Sie kann deine Flucht unterstützen von zu Hause aus.“
Ich nickte zögernd.
„Gut.“
Er stand wortlos auf, ging von der Küche durch den Flur hi nüber in sein kleines Büro. Widerwillig folgte ich ihm. Er zog einen kleinen Zettel hervor, hob ab, wählte die Vorwahl von Deutschland und reichte mir den Hörer. Meine linke Hand war nass und klebrig, meine rechte schwitzte Phantomschweiß. Er wählte weiter: die Vorwahl meiner Stadt, die ersten Ziffern unserer Telefonnummer...
Ich stellte mir vor, wie die verschiedenen Telefone an verschi edenen Orten in unserem Haus schrillten, im Arbeitszimmer, in der Küche, auf der Gästetoilette, in meinem Junggesellenverschlag. Hier war es früher Nachmittag, zu Hause also ganz früher Morgen. Silke würde noch nicht im Haus sein, Melanie noch schlafen. Ich stellte mir vor, wie sie aus dem Bett sprang und zum Telefon lief. Was, wenn sie die Nacht nicht allein verbracht hatte und ich ihr das anhörte? Wenn ich ihr anmerkte, dass es ihr gar nicht so unrecht gewesen war, nichts mehr von mir gehört zu haben? Wenn ich heraushörte, wie sie sich bemühte, Bestürzung zu heucheln?
Und dann, wenn sie fertig war mit ihrem Betroffenheit stext, wenn es ans Erklären ging – was sollte ich sagen? Ich wollte nicht diese ganze grässliche Geschichte vor ihr ausbreiten. Und selbst wenn ich es könnte: Wie sollte ich ihr begreiflich machen, dass ich zwar frei war, aber nicht frei genug, um mich auf die Heimreise zu machen? Für Melanie war man entweder schuldig oder unschuldig. Und wenn ich nur den Eindruck machte, schuldig zu sein, dann war ich es für sie auch. Erst der Everest, dann das im CbT und jetzt auch noch von der Polizei verfolgt in Kasachstan, du und deine verdammte Abenteuerlust...! Sie würde das nicht sagen, aber es würde in allem enthalten sein was sie sagte.
Der Pastor wählte die letzte Nummer. Ihre letzte Umarmung fiel mir ein, wie sie sich freun dschaftlich mit ihrer rechten Hälfte an mich gedrückt hatte, aber so, dass ihr Busen auf Abstand blieb, während ihre linke Hälfte mit ihrer Tasche beschäftigt war. Dieser Schmatz auf die Backe, diese gezierte, überfreundliche und zugleich etwas herablassende Art, mit der sie sonst ihre Freundinnen begrüßte. Es war für mich nicht auszudenken, was seit dieser letzten Berührung zu Hause alles geschehen sein mochte – aber wer so mit mir umging, der war mir nicht nahe genug, um das anvertraut zu bekommen, was mir inzwischen alles widerfahren war.
Das erste Freizeichen ertönte. Ich legte auf. Der Pastor scha ute mich an als hätte er das erwartet. Ich schüttelte den Kopf.
„So geht das nicht.“
„Wie dann?“
„Ich kann ihr das nicht am Telefon erklären. Ich muss zurück, und zwar so schnell wie möglich.“
Mir war nicht bewusst, dass ich mich selbst belog in diesem Auge nblick. Die Rückkehr nach Hause war mir nicht mehr wirklich das dringendste Ziel. Denn das, was ich dort dann als nächstes angehen wollte, konnte ich nun, wie es schien, auch hier haben. Ich wollte nicht vordringlich nach Hause, um wieder frei und in Sicherheit und gut versorgt zu sein. Ich wollte nach Hause, um ihm gegenüberzutreten. Ich wusste nicht, was dann geschehen würde und wollte es auch gar nicht wissen. Normalerweise war ich nicht der Typ, der anderen etwas heimzahlte – Rachedurst war für mich immer ein Phänomen der Unterlegenheit. Was ich tun würde, war für mich ein Mittel, herauszufinden, was aus mir geworden war. Ich wollte ihm einfach nur gegenübertreten.
Wann würde er hier auftauchen, morgen schon oder erst in ein paar W ochen? Würde er allein kommen oder mit den Gangstern, die ihm geholfen hatten, mich zu entführen? Oder in Begleitung der Billardkugel? Wie würde er sich hier verhalten? Würde er nach mir fragen, nach mir suchen? Würde ich die Geduld haben, ihn mich finden zu lassen, oder
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