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Der Mann, der nicht geboren wurde

Der Mann, der nicht geboren wurde

Titel: Der Mann, der nicht geboren wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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Länge einer
Stricknadel, nur am einen Ende spitz.
    Estéron drängte sich an Rodraeg und Cajin vorbei in den Raum und
näherte sich der Nadel mit bebenden Fingern. Es sah aus, als würde er ihre
Konturen nachfahren, sie streicheln und neu formen, aber seine Finger waren
dabei mehr als eine Handbreit von der Nadel entfernt.
    Â»Sie ist es«, raunte er. »Ich spüre Blut. Gewebe. Knochen sogar.
Gedanken und Erinnerungen. Wissen, durchsprengt von einem Blitz. Diese Nadel
steckte im Kopf eines vor Furcht schon fast winselnden Menschen.«
    Rodraegs Stimme war so heiser und hohl, dass er selbst sie nicht
wiedererkannte. »Die Hauptfrau suchte die Mordwaffe im Getreidespeicherfall.
Hier liegt sie. Auf meinem Bett.«
    Â»Das bedeutet«, sagte Cajin heftig atmend, »dass jetzt jeden
Sandstrichbruchteil die Garde bei uns klopfen wird, um das Haus zu durchsuchen
und dabei die fragliche Nadel zu finden.«
    Â»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Rodraeg zum zweiten Mal innerhalb
kurzer Zeit. Alle lauschten bang nach unten. Hätte es jetzt tatsächlich
geklopft, wären wohl Naenns und Rodraegs und auch Cajins Herzen vor Schreck
stehen geblieben. Aber alles blieb ruhig dort unten. »Oder aber«, wagte Rodraeg
einen anderen Gedanken, »der Gardist, der unser Haus von hinten bewacht, soll
mitbekommen, wie wir eine Mordwaffe im Beet verscharren. Oder gibt es noch ein
anderes gutes Versteck?«
    Â»Im Keller«, schlug Cajin vor. »Dort gibt es lose Stellen und Risse
im Mörtel zuhauf.«
    Â»Dieses … dieses Ding darf nicht im Haus bleiben!«, verlangte Naenn.
»Ich muss hier ein Kind zur Welt bringen!«
    Â»Und ich muss nachdenken«, sagte Rodraeg knapp. »Wir bringen es erst
mal in den Keller und verstecken es dort.«
    Â»Rodraeg!«, beharrte Naenn, bis Rodraeg sich ihr zuwandte.
    Â»Naenn, mein Schwert ist auch eine Mordwaffe. Bestars Schwert
ebenfalls. Sollen wir alle Waffen außer Hauses schaffen, nur weil du dich damit
unwohl fühlst? Diese Nadel wird dir und deinem Kind nichts antun. Aber das, was
passieren könnte, wenn wir nun unüberlegt handeln, könnte dein und das Leben
deines Kindes in echte Gefahr bringen. Uns ist der nächste Zug in diesem Spiel
mitgeteilt worden. Nun muss ich nachdenken, welchen Zug wir als Nächstes
machen.«
    Â»Willst du alleine nachdenken?«, fragte Estéron.
    Â»Ja«, antwortete Rodraeg. »Aber zuvor habe ich noch ein paar Fragen.
Kam dir der Eindringling irgendwie bekannt vor? Vom Geruch her? Dem Geräusch
seines Atems, als er dich wegstieß?«
    Â»Nein. Bei seinem Eintreten hielt ich ihn für dich. Er spielte dich, wie ein Bühnenschauspieler. Aber er war ein
Fremder. Ich bin ihm noch nie begegnet.«
    Â»Schade. Aber immerhin schließt das einige Verdächtige aus. Würdest
du dir zutrauen, ihn wiederzuerkennen, wenn er noch mal in deine Nähe kommen
sollte?«
    Â»Auf jeden Fall.«
    Â»Gut. Das verringert seine Möglichkeiten und erhöht unsere. Letzte
Frage: Hast du Magie gespürt? Würdest du sagen, dass er etwas Übernatürliches
an sich hatte?«
    Der alte Schmetterlingsmann lächelte. »Für mich ist Magie nichts
Übernatürliches. Sie ist mir so vertraut wie dir der Wuchs deines Bartes in
deinem Gesicht. Aber nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass er kein Magier
war. Und ich bin mir vollkommen sicher, dass er Angst
hatte. Vor mir oder vor dem Misslingen seines Unterfangens.«
    Â»Gut, das sind wertvolle Hinweise. Nun lass uns die Nadel zum
Verschwinden bringen, Cajin.«
    Rodraeg ging mit Cajin in den Keller hinunter, in dem außer ein paar
Vorräten und für die Wäsche vorgesehenen Kleidungsstücken nichts gelagert war,
und inspizierte dort genauer als jemals zuvor die Beschaffenheit der Wände.
Schließlich einigte er sich mit Cajin auf eine Fuge zwischen Boden und Nordwand,
in die die Nadel bequem eingepasst werden konnte, sodass die Fuge anschließend
besser abgedichtet war, die Nadel jedoch mit dem bloßen Auge nicht auszumachen.
    Â»Sieht gut aus«, befand Rodraeg.
    Â»Warte mal.« Cajin war argwöhnischer und überprüfte mit der Öllampe,
ob die Nadel keine verräterischen Reflexe warf, wenn man eine Lichtquelle dicht
davor entlangführte. Tatsächlich schimmerte das schwarze Metall leicht, und
Cajin tilgte diesen Effekt, indem er mit geschickten Fingern Staub und
Strohfasern in die Fuge

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